# taz.de -- Kulturgüterstreit: "Wir haben den Deutschen nichts gestohlen" | |
> Seit 16 Jahren verhandeln Deutschland und Polen über die Rückgabe von | |
> Kulturgütern. Jetzt ist der Streit eskaliert. Ein Gespräch mit Professor | |
> Wojciech Kowalski, der die polnische Seite vertritt. | |
Bild: "Das Ausmaß der Vernichtungen ist kaum bekannt" - Blick auf das zerstör… | |
taz: Herr Professor Kowalski, die polnische Empörung über Tono Eitel, Ihren | |
deutschen Partner in den Kulturgüterverhandlungen, will sich gar nicht | |
legen. Was ist passiert? | |
Wojciech Kowalski: Professor Eitel wirft uns den Bruch der Haager | |
Konvention von 1907 vor, die den Raub von Kulturgütern verbietet. Wir haben | |
aber keine deutschen Kulturgüter geraubt. | |
Im Gespräch mit der FAZ nannte Eitel die Beethoven-Partituren und die | |
Goethe-Briefe, die seit 1945 in der Krakauer Jagiellonenbibliothek liegen, | |
"die letzten deutschen Kriegsgefangenen". | |
Das Wort "Kriegsgefangener" zwingt uns Denkkategorien einer vergangenen | |
Epoche auf. Heute aber muss niemand mehr befreit werden. Auch die | |
"Berlinka" nicht, wie wir die kriegsbedingt verlagerten Sammlungen der | |
Preußischen Staatsbibliothek in Berlin nennen. | |
Was genau ist "Beutekunst"? | |
Mit "Raub- und Beutekunst" sind Kulturgüter gemeint, die Aggressoren oder | |
Okkupanten im Krieg aus fremden Territorien abtransportieren, obwohl die | |
Haager Landkriegsordnung von 1907 dies verbietet. Wir aber haben 1945 nach | |
der Westverschiebung Polens durch die Alliierten die deutschen Kulturgüter | |
in den ehemaligen deutschen Ostgebieten vorgefunden. Das ist ein | |
Unterschied. | |
In Deutschland geht man davon aus, dass Polen die früheren deutschen | |
Ostgebiete als Reparation für die Kriegszerstörungen bekommen hat. Sind die | |
Schlösser, Kirchen, Bibliotheken und Kunstmuseen, die dort geblieben sind, | |
kein ausreichender Ausgleich? | |
So würde ich das nicht ausdrücken. Polen war gezwungen, im Osten | |
Territorien an die Sowjetunion abzutreten, und erhielt dafür zur | |
Entschädigung Gebiete an seiner Westgrenze. Die Kunstsammlungen, die wir in | |
Schlesien, Pommern und dem südlichen Ostpreußen vorfanden, behandeln wir | |
daher als Kulturerbe dieser Gebiete. Sehen Sie sich heute Breslau oder | |
Danzig an! | |
Worüber genau wird nun verhandelt? | |
Grundlage unserer Verhandlungen bildet Artikel 28 Absatz 3 des | |
Nachbarschaftsvertrages. Er besagt, dass beide Seiten im Geiste der | |
Versöhnung bestrebt sind, "die Probleme im Zusammenhang mit Kulturgütern | |
und Archivalien, beginnend mit Einzelfällen, zu lösen". Beide Seiten haben | |
also 1991 anerkannt, dass es noch ungelöste Probleme aus der Zeit des | |
Zweiten Weltkriegs gibt. | |
Das sind die Grundlagen. Und worüber verhandeln sie konkret? | |
Zum einen über die große Zahl polnischer Kunstwerke, die zerstört wurden, | |
die verbrannten Bibliotheken und die von den Nazis geraubten Kulturgüter, | |
die sich noch immer in Deutschland befinden. Zum anderen über die deutschen | |
Kulturgüter, die während des Zweiten Weltkriegs aus Angst vor | |
Bombenangriffen von Berlin nach Schlesien gebracht wurden und sich ab 1945 | |
auf polnischen Territorium befanden. | |
Also wird nicht über Reparationen verhandelt? | |
Nein. Über Reparationen reden wir gar nicht. Wenn Tono Eitel sagt, dass | |
Polen im Jahre 1953 auf weitere Reparationen verzichtet habe, so ist das | |
zwar richtig, aber völlig unerheblich. Denn Grundlage eventueller | |
Kompensationsforderungen ist allein der Nachbarschaftsvertrag. | |
Polens Außenministerin Anna Fotyga wirft den Deutschen vor, polnische | |
Kulturgüter im Wert von geschätzten 20 Milliarden Dollar geraubt oder | |
vernichtet zu haben. | |
Diese Zahl ist seit Jahren bekannt. Wobei man dazu sagen muss, dass es sehr | |
schwierig ist, Verluste präzise zu schätzen, wenn ganze Städte mit | |
Kultureinrichtungen verbrannt sind. | |
Warum konnte das Problem des Kulturgüteraustauschs bis heute nicht gelöst | |
werden? | |
Das Hauptproblem ist die völlig gegensätzliche rechtliche Beurteilung der | |
Situation: Die Deutschen sagen, dass sich die deutschen Kulturgüter unter | |
Verletzung der Haager Konvention auf polnischem Boden befinden und also | |
geraubt sind. Wir hingegen wiederholen, dass die deutschen Kulturgüter mit | |
der Grenzverschiebung 1945 in unser Eigentum übergegangen sind und wir den | |
Deutschen daher nichts gestohlen haben. | |
Wurden in den vergangenen 16 Jahren nur rechtliche Streitpunkte diskutiert? | |
Oder gibt es noch andere Probleme? | |
In Polen haben wir es vor allem mit der Vernichtung des Kulturerbes zu tun. | |
Die Kulturgüter Deutschlands aber existieren bis heute und sind in gutem | |
bis sehr gutem Zustand. In Deutschland hingegen wurden 114 polnische | |
Kunstwerke identifiziert, die uns noch nicht zurückgegeben worden sind. | |
Warum geben die Deutschen NS-Raubkunst nicht an Polen zurück? | |
Ich weiß es nicht. | |
Was steht noch auf der Liste? | |
Zum Beispiel das Bild "Dogenpalast in Venedig" von Francesco Guardi. Einst | |
hing es im Nationalmuseum in Warschau. Heute befindet es sich im Depot der | |
Staatsgalerie in Stuttgart. Die Deutschen wollen es erst zurückgeben, wenn | |
sie die Berlinka erhalten haben. | |
Empört Sie das? | |
Wissen Sie, nicht wir haben deutsche Kulturgüter geraubt, sondern die | |
Deutschen haben polnische Kulturgüter geraubt. Manchmal hat man schon den | |
Eindruck, als hätten die Deutschen das vergessen. | |
Wurden deshalb die Verhandlungen vor zwei Jahren abgebrochen? | |
Wenn die Emotionen so hoch gehen wie in letzter Zeit, ist es tatsächlich | |
besser, die Verhandlungen eine Weile ruhen zu lassen. | |
Reden Sie und Herr Eitel überhaupt noch miteinander? | |
Zurzeit nicht, nein. Wir kehren aber mit Sicherheit an den | |
Verhandlungstisch zurück. | |
Kann man die Kulturgüterverluste Polens als vergessenes Opfer des Zweiten | |
Weltkriegs bezeichnen? | |
In Deutschland sicherlich. Dort ist das Ausmaß der Vernichtungen in Polen | |
kaum bekannt. Fast niemand weiß, dass die deutschen Besatzer schon am 16. | |
Dezember 1939 allen Polen befahlen, die in ihrem Besitz befindlichen | |
Kulturgüter zu melden. Ein spezieller Bevollmächtigter, Kajetan Mühlmann, | |
wurde dann mit dem systematischen Raub der polnischen Kulturgüter betraut. | |
War das die Haupttreuhandstelle Ost? | |
Nein, diese entstand etwas später. Das war eine Organisation, die direkt | |
Reichsmarschall Hermann Göring unterstand. Sie übernahm das gesamte | |
Vermögen des polnischen Staates und seiner Bürger, verwaltete es und | |
entschied über seine endgültige "Verwertung": Gegenstände wurden | |
eingeschmolzen, verkauft oder germanisiert. | |
Warum gibt es keine Literatur, keine Filme, kein Denkmal? | |
Vielleicht ist es schwer, daraus eine bewegende Geschichte zu machen. Denn | |
am Anfang ging es den Nazis nur um die wirtschaftliche Ausplünderung | |
Polens. Die Haupttreuhandstelle Ost sollte das polnische Vermögen zu Geld | |
machen und den "verwertbaren Teil" der Sammlungen an das geplante | |
Führer-Museum nach Linz schicken, das Naturkundemuseum nach Salzburg oder | |
direkt an Göring. Nach dem Warschauer Aufstand 1944 gingen die Nazis | |
schließlich zur systematischen Vernichtung über. Sie sprengten Straße um | |
Straße, Haus um Haus. | |
Wüteten die Nazis in anderen besetzten Ländern genauso? Zum Beispiel in | |
Frankreich? | |
Nein. Es gab in der Wehrmacht eine spezielle Einheit, die sich | |
"Kunstschutz" nannte und Kunstwerke im Sinne der Haager Landkriegsordnung | |
schützte. Daher wurden französische Museen kaum geplündert. Nur | |
jüdisch-französische Sammlungen und - nota bene - die polnische Bibliothek | |
in Paris wurden von den Nazis zerstört. Frankreich war eben der Westen, | |
Polen der Osten. Hier die Kultur, dort die Vernichtung. | |
Was sind die größten Kulturverluste Polens? | |
Das kommt auf den Standpunkt an. Vielleicht das Verschwinden des | |
Rafael-Gemäldes "Porträt eines Jünglings". | |
Gibt es das Bild noch? | |
Ich hoffe sehr, dass es noch existiert, aber wir wissen nicht, wo es sich | |
befindet. Doch es geht nicht nur um wertvolle Bilder. Es geht auch um | |
zerstörte Kirchen und Synagogen, die vielleicht architektonisch nicht | |
übermäßig wertvoll waren. Aber die Menschen haben dort gebetet, gesungen | |
und geheiratet. Es war ihre Kultur. | |
Verhandeln Sie auch mit Russland, der Ukraine und anderen | |
GUS-Nachfolgestaaten? | |
Die Rote Armee hat in Polen viele Kulturgüter requiriert. In | |
Niederschlesien haben wir Polen die Sammlungen der Preußischen | |
Staatsbibliothek vor den sowjetischen Trophäenjägern retten können. Die | |
Berlinka also, die heute in der Jagiellonenbibliothek in Krakau liegt und | |
über die so heftig gestritten wird. Tatsächlich verhandeln wir auch mit | |
Russland und den anderen früheren Sowjetstaaten. Vor kurzem erst haben wir | |
aus Riga das Fragment eines Altars zurückerhalten. | |
Gab Stalin den Polen nach dem Krieg Kulturgüter zurück? | |
Stalin zog es vor, großzügige Geschenke zu machen, statt Raubkunst | |
zurückzugeben. In den Jahren 1954 bis 56 erhielten wir einige solcher | |
"Geschenke", wie etwa Hans Memlings "Das letzte Gericht". Es hängt heute im | |
Nationalmuseum in Danzig. | |
Hing diese Rückgabe mit den Kriegsreparationen zusammen? | |
Nicht unmittelbar. Das Problem bestand darin, dass die Alliierten auf der | |
Potsdamer Konferenz 1945 beschlossen, dass die Sowjetunion 15 Prozent ihrer | |
Reparationen an Polen abgeben sollte. Polen reklamierte zunächst auch 15 | |
Prozent der Kunstwerke und Büchersammlungen, die die Sowjetunion als | |
Reparation für sich in Anspruch nahm - ohne Erfolg. Schließlich verzichtete | |
Polen darauf. Viel wichtiger war damals ja auch der Wiederaufbau der | |
Wirtschaft. | |
Aber insgesamt kann man sagen, dass Polen diese 15 Prozent von der | |
Sowjetunion bekommen hat? | |
Ich nehme es an. Kunstwerke allerdings, und darum ging es mir, hat Polen im | |
Rahmen der Reparationen nicht erhalten. | |
INTERVIEW: GABRIELE LESSER | |
11 Sep 2007 | |
## TAGS | |
Warschauer Aufstand | |
NS-Raubkunst | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
75 Jahre Warschauer Aufstand: Bilder, die lügen | |
Am 1. August 1944 begann der Aufstand der polnischen Heimatarmee gegen die | |
deutsche NS-Besatzung. Fotos von damals zeigen selten die Wahrheit. | |
Suche nach Raubkunst: Mit der Crowd auf Kunstjagd | |
Reporter des Recherche-Start-ups „Follow the money“ suchen mit ihrem | |
Publikum ein Gemälde, das 1938 viele Leben rettete. |