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# taz.de -- 75 Jahre Warschauer Aufstand: Bilder, die lügen
> Am 1. August 1944 begann der Aufstand der polnischen Heimatarmee gegen
> die deutsche NS-Besatzung. Fotos von damals zeigen selten die Wahrheit.
Bild: Warschauer Aufständische, Anfang August 1944
Warschau taz | Die Warschauer sind stolz auf das einst höchste Gebäude der
Stadt, das Hochhaus der Versicherung Prudential. Als es 1944 von einem
Mörsergeschoss getroffen wird, steht der polnische Fotograf Sylvester Braun
direkt gegenüber, doch weit genug entfernt, um nicht von den
herabgeschleuderten Steinen getroffen zu werden. Geistesgegenwärtig drückt
er auf den Auslöser seiner Kamera. Dieses Bild – das getroffene Prudential,
aus dem eine riesige Staub- und Rauchwolke in den Himmel steigt – ist heute
Polens berühmteste Bildikone für den Warschauer Aufstand 1944.
Das hat mit der Dramatik des Moments zu tun, und mit der
Nachkriegsgeschichte Warschaus. Denn wie das zu 70 Prozent zerstörte
Stadtzentrum wird auch das Prudential wieder auferstehen. Das tonnenschwere
Geschoss vermochte zwar Betonteile aus dem Gebäude zu schießen, doch das
Stahlgerüst hielt stand. Heute schätzen viele Warschauer ihre boomende City
– und das Prudential, das jetzt als Luxushotel neben dem Platz der
Aufständischen aufragt. Hier, so erzählt man sich, soll am 1. August 1944
der Warschauer Aufstand gegen die deutschen Besetzer begonnen haben.
Auch die Deutschen kennen ein berühmtes Bild, das zwar nicht an den
Warschauer Aufstand von 1944 erinnert, doch auch den Krieg gegen Polen
thematisiert: Lachende Soldaten, die mit vereinten Kräften den polnischen
Schlagbaum an der Grenze zum Freistaat Danzig zerbrechen. Es ist ein
Nazipropagandabild. In Wahrheit hat es die Szene nie gegeben. Polizisten
aus Danzig mussten als Wehrmachtsoldaten posieren. Das Bild suggeriert
einen leichten Sieg der Deutschen im „Polenfeldzug“, wie der Blitzkrieg
gegen Polen im Nazijargon genannt wurde. Die wenigsten Deutschen wissen,
dass ihnen Zeitungen, Schulbücher und sogar Dokumentarfilme bis heute immer
wieder Nazipropagandabilder zeigen, ohne dies kenntlich zu machen. Im
Anblick der deutschen Soldaten am Schlagbaum 1939 vermuten daher viele die
Wahrheit. Doch das Bild lügt.
Tatsächlich begann der Zweite Weltkrieg mit dem Beschuss des polnischen
Munitionslagers auf der Danziger Halbinsel Westerplatte und fast
gleichzeitig mit einem Bombenteppich auf die Kleinstadt Wieluń bei Łódź .
Auch Hitler log, als er am selben Tag in seiner Reichstagsrede den Angriff
auf Polen rechtfertigte: „Seit 5 Uhr 45 wird zurückgeschossen.“ Dennoch
klingt der Satz noch vielen in den Ohren. Das Schicksal Wieluńs ist
weitgehend vergessen: der Angriff auf die schlafende Stadt, die rund 1.200
Toten und das erste Kriegsverbrechen der Deutschen im Zweiten Weltkrieg.
Vor gut fünf Jahren fragten sich Historiker, Medienwissenschaftler und
Publizisten in Polen und Deutschland schließlich, wie Fotos „auf beiden
Seiten der Barrikade“ ausgesehen hatten. Welche Szenen nahmen die deutschen
Kameramänner und Fotografen im Warschauer Aufstand 1944 auf? Welche die
polnischen? Wie unterschieden sich die Bilder, welche Motive herrschten
vor? Und: Was bekamen die Menschen damals im Deutschen Reich, in Polen und
in der Welt von dem Aufstand zu sehen? Denn sowohl in den
gleichgeschalteten deutschen Zeitungen und Zeitschriften der Nazizeit als
auch in der konspirativen Presse des polnischen Widerstands gab es eine
scharfe Zensur.
## Die Bilder erzählen nur einen Teil der Wahrheit
Im Jahr 2014 organisierten die Landeszentrale für politische Bildung
Hamburg und das Museum des Warschauer Aufstands die gemeinsame Ausstellung
„Auf beiden Seite der Barrikade“. Beteiligt waren auch die Generalkonsulate
der Republik Polen und der USA in Hamburg, die Universität Hamburg, das
Festival des Neuen Polnischen Films und die Deutsch-Polnische Gesellschaft
Hamburg. Die Ausstellung wurde noch im selben Jahr in Hamburg gezeigt,
danach wanderte sie durch mehrere deutsche Städte. Wo sie allerdings bis
heute nicht war, ist Polen.
Auch zum diesjährigen 75. Jahrestag des Warschauer Aufstands wird die
Ausstellung dort nicht zu sehen sein. „Ich habe von dieser Ausstellung
gehört“, erklärt der Vizedirektor des Warschauer Aufstandsmuseums, Paweł
Ukielski, auf Nachfrage, „aber ich habe sie noch nie gesehen. Sie soll
inhaltlich gut sein. Es ist allerdings nie darüber gesprochen worden, die
Ausstellung auch in Polen oder gar in unserem Museum zu zeigen.“
David Rojkowski, der Kurator der Hamburger Ausstellung, wundert sich über
diese Aussage. „Ich bin ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass
eine gemeinsam von Deutschen und Polen erarbeitete Ausstellung auch in
beiden Ländern gezeigt und diskutiert wird. Nur das ermöglicht es uns doch,
unsere jeweiligen Geschichtsbilder kritisch zu hinterfragen und
gegebenenfalls auch zu ändern“. In Warschau findet Ukielski: „Das ist Sache
der Deutschen. Sie müssen sich an uns wenden, fragen, ob wir die
Ausstellung zeigen wollen, und dann einen Vertrag mit uns unterzeichnen.“
Die Sache ist schwierig, doch Rojkowski sagt, er wolle noch einmal auf
Ukielski zugehen.
Dass es womöglich nicht nur formale Gründe sind, die hinter dem
Desinteresse des polnischen Aufstandsmuseums stehen, lassen die Ergebnisse
der Forscher vermuten. Denn die Fotos des Warschauer Aufstands, wie sie von
den Propagandaeinheiten der Wehrmacht und SS, aber auch von den
Kriegsberichterstattern des polnischen Büros für Information und Propaganda
(BIP) aufgenommen wurden, erzählen nur einen Teil der Wahrheit. So sind
weder auf den deutschen, noch auf den polnischen Bildern Tote zu sehen.
Dabei sollen rund 150.000 Zivilisten bei dem sich quälend lang hinziehenden
Guerillakampf ums Leben gekommen sein.
Am 4. und 5. August 1944, kurz nach Ausbruch des Aufstands, verübten
SS-Einheiten unter der Führung von Heinz Reinefarth ein Massaker. Die
Einwohner zweier Straßenzüge in Warschau-Wola mussten ihre Wohnungen
verlassen. Frauen, Kinder, Männer – sie alle mussten sich in den
Hinterhöfen ihrer Häuser aufstellen. Dort wurden sie von den für ihre
Brutalität bekannten Kaminski- und Dirlewanger-SS-Brigaden erschossen.
Schätzungsweise 30.000 Menschen wurden so ermordet, manche Schätzungen
gehen sogar von bis zu 50.000 Opfern aus.
Doch von diesem Massaker gibt es kein einziges Bild. Weder von polnischer,
noch von deutscher Seite. Auch von den Leichenbergen, von denen Zeitzeugen
berichteten, existieren heute keine Bilder. Die Deutschen wie auch ihre
willigen Kollaborateure wollten ihr Verbrechen nicht dokumentieren, während
die Fotografen der polnischen Aufstandspresse den Warschauern nicht zeigen
wollten, was ihnen für ein Schicksal drohen könnte.
Die Diskussion über Sinn und Unsinn eines bewaffneten Aufstands gegen einen
verbrecherischen und militärisch überlegenen Feind begann bereits in den
ersten Aufstandstagen 1944. Zudem hatte die Aufstandsführung einen
Zweifrontenkampf begonnen: Während die Deutschen militärisch besiegt werden
sollten, sollten die Sowjets politisch vor vollendete Tatsachen gestellt
werden. Durch die Selbstbefreiung ihrer Hauptstadt wollten die polnischen
Militärs im Lande wie auch die polnischen Politiker im Londoner Exil den
Sowjets selbstbewusst als die „Herren im eigenen Hause“ entgegentreten.
Denn es zeichnete sich bereits ab, dass die Sowjets keineswegs nur als
Befreier kamen. Im Osten Polens, wo die Rote Armee gemeinsam mit polnischen
Untergrundsoldaten Städte wie Lublin und Białystok befreit hatte,
entwaffnete die Rote Armee nach der „Befreiung“ die polnischen Mitkämpfer
und übernahm dann die Herrschaft. In Lublin wurde eine „Provisorische
Regierung“ eingesetzt, in der Marionettenpolitiker Stalins saßen.
## Aufrechterhaltener Mythos
In der polnischen Bildersprache des Warschauer Aufstands spielten gut
bewaffnete Kämpfer eine große Rolle. Immer wieder wurden in der
Untergrundpresse Gruppenbilder von sehr gut bewaffneten Aufständischen
publiziert. Dies sollte in der Bevölkerung die Zuversicht auf einen Sieg
stärken. Dabei war die Realität eine völlig andere. Von den rund 40.000
Soldaten der Heimatarmee, die auf den Befehl der polnischen Exilregierung
in London hörte, waren gerade mal 10.000 mit Gewehren, Pistolen und
Granaten bewaffnet. Die große Mehrheit der Kämpfenden musste mit selbst
gebauten Waffen auskommen, oder sie von den Deutschen erobern. Von diesem
dramatischen Ungleichgewicht – 40.000 bis an die Zähne bewaffnete
Wehrmachtssoldaten und SS-Männer gegenüber rund 10.000 bewaffneten
Aufständischen – wussten die meisten Polen 1944 nichts. Die
Untergrundpresse informierte darüber nicht.
Bis heute wird im Museum des Warschauer Aufstands der Mythos
aufrechterhalten, dass die Aufständischen eine Chance auf den Sieg gehabt
hätten. Sie seien lediglich verraten worden von der näher rückenden Roten
Armee, die auf der anderen Weichselseite Warschaus zum Stoppen kam. Und
tatsächlich sah die Rote Armee vom Stadtteil Praga aus knapp zwei Monate
lang zu, wie die Deutschen den Warschauer Aufstand blutig niederschlugen
und dann drei Monate lang die Innenstadt zerstörten. Als die Rote Armee in
den ersten Januartagen 1945 endlich übersetzte, „befreite“ sie eine
menschenleere Ruinenstadt. Auch die Deutschen hatten Warschau längst
verlassen.
Während auf den polnischen Bildern oft bewaffnete Kämpfer und deutsche
Gefangene zu sehen sind, zeigen die deutschen Propagandabilder das Leid der
polnischen Zivilbevölkerung während des Aufstands: Hunger, Staub,
Erschöpfung, die eigene Wohnung in Trümmern, Verzweiflung und die Suche
nach vermissten Familienangehörigen sind immer wiederkehrende Motive. Hin
und wieder wurde ein Panzer gezeigt, die Entwaffnung einzelner Kämpfer,
oder auch jener Mörser, von dem aus das Geschoss gegen das Hochhaus
Prudential abgefeuert wurde. Diese Propagandabilder wurden vor allem in
Zeitungen publiziert, die Polen im Generalgouvernement lesen sollten.
Der Kurier Warszawski war eines dieser NS-Propagandablätter in polnischer
Sprache. Die Fotos erschienen zum Teil auch in der Illustrierten Signal,
die mit ihren großformatigen Bildern in hoher Druckqualität ein
Aushängeschild der NS-Propaganda im Ausland war. Das Zweiwochenblatt kam in
bis zu 20 Sprachen heraus und hatte eine Auflage von mehr als zwei
Millionen Exemplaren. Signal publizierte zum Warschauer Aufstand 1944 zwei
Sonderbeilagen mit zahlreichen Bildern. Im Deutschen Reich erschienen die
ersten offiziellen Berichte vom Warschauer Aufstand 1944 erst am 18.
September, also drei Wochen nach Beginn der Kämpfe. Der Völkische
Beobachter zeigte am 8. Oktober 1944, also bereits nach der Kapitulation
der Aufständischen, ein Bild, das Polen zeigte, die durch die
Trümmerlandschaft Warschaus vor den Verfolgern flüchteten.
Bei den deutschen Aufnahmen sind auch die Rückseiten der Fotos
aufschlussreich, da sich die Bildbeschreibung im Lauf der Jahre oft
änderte. So bekam ein Nazipropagandabild 1944 die Bildunterschrift:
„Aufstand in Warschau blutig zerschlagen. Waffen-Freiwillige der SS aus dem
Osten, Grenadiere des Heeres und der Waffen-SS schlugen den Aufstand
nieder.“ Dasselbe Foto wurde in der Agentur Zentralbild der DDR mit
folgender Unterschrift versehen: „Mit entmenschten SS-Banditen und
aufgeputschten Soldaten der faschistischen deutschen Wehrmacht wurde am 2.
Oktober 1944 der Warschauer Aufstand endgültig niedergeschlagen.“ Ein
anderes SS-Propagandabild von den zivilen Opfern schaffte es über die
Presseagentur Associated Press in eine Tageszeitung in Minneapolis. Anders
als auf der Rückseite des Bildes vermerkt, scheint es aber nicht
bildtelegrafisch („wirephoto“) übermittelt worden zu sein, sondern wurde
per Kurier von Europa in die USA gebracht. Laut der Originalbeschreibung
seien es die Aufständischen gewesen, die Flüchtlinge aus Warschau zunächst
in enge Keller trieben und dort gefangen hielten. Nach der Kapitulation
„reichen polnische Schwestern den in die weniger zerstörten Bezirke der
Stadt Marschierenden Erfrischungen“.
Die Ausstellung macht deutlich, welche Intention hinter den jeweiligen
Propaganda-Bildern stand. Sie sensibilisiert für den Umgang mit
zeithistorischen Bildern und den Bildunterschriften. Sie macht auch klar,
dass etliche der Kriegsbilder, die bis heute unsere Erinnerung prägen – in
Deutschland, Polen und der ganzen Welt – Nazi-Propaganda-Bilder sind.
1 Aug 2019
## AUTOREN
Gabriele Lesser
## TAGS
Warschauer Aufstand
Polen
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
Geschichte
Erinnerungskultur
Technische Universität Berlin
Polen
Warschauer Ghetto
Holocaust
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