# taz.de -- Chinesischer Autor Liao Yiwu: "Hier gibt es keine Redefreiheit" | |
> Er hätte gern Nobelpreisträgerin Herta Müller getroffen, durfte aber | |
> nicht ausreisen. Liao Yiwu über das Schreiben in der Diktatur, | |
> Polizeikontrollen und das Stasi-Drama "Das Leben der Anderen". | |
Bild: "Ich habe sehr viele Raubkopien vom Film "Das Leben der Anderen" gekauft … | |
taz: Herr Liao, werden Sie noch beschattet? | |
Liao Yiwu: Seit ein paar Tagen habe ich das Gefühl, dass meine Bewacher | |
nicht mehr da sind. Zuvor klingelten sie ab und zu an meiner Tür, nur um zu | |
sehen, ob ich zu Hause bin. Manchmal riefen sie mich auch an und luden mich | |
zu einer Tasse Tee ein. [Anmerkung d. Red.: "Tee trinken" ist eine in China | |
häufig gebrauchte Umschreibung für ein Gespräch auf der Polizeiwache.] Sie | |
haben mir erklärt, das würde wohl bis zum 20. März andauern. Ich nehme an, | |
weil an diesem Tag das Kölner Literaturfest zu Ende ist. | |
Woran arbeiten Sie gerade? | |
Ich habe eben mein neues Buch "Der Schäfer im Fernen Osten" beendet. Es | |
handelt von einem Missionar und seinen Anhängern. Es kommt voraussichtlich | |
im Herbst heraus. Außerdem arbeite ich an einem Buch, das in Deutschland | |
unter dem Titel "Das Zeugnis" oder so ähnlich wohl im nächsten Jahr | |
erscheinen wird. | |
In Köln hätten Sie gerne die Nobelpreisträgerin Herta Müller getroffen. | |
Warum? | |
Unter den deutschen Schriftstellern ist sie diejenige, für die ich mich | |
derzeit am meisten interessiere. Vorher habe ich mich mit der | |
"Blechtrommel" von Günter Grass beschäftigt. Darin kommt ein Kind vor, das | |
immer schreit, wenn es mit einer Krise konfrontiert wird. Dieses Schreien | |
ist ganz außergewöhnlich, es lässt Glas zerspringen. Ich denke manchmal: | |
Obwohl ein Schriftsteller sich nicht so verhalten kann wie das schreiende | |
Kind, hallt doch in seinem Innersten dieser Schrei. Er lässt zwar nicht | |
Glas bersten, aber er zeigt seine Leidenschaft. | |
Wie bei Herta Müller? | |
Bei ihr geht es um Schweigen und Erzählen. Im totalitären Rumänien können | |
die Menschen im Dorf nur das Schweigen wählen, aber im Herzen erzählen sie | |
weiter. Sie können nur mit dem Gras, dem Vieh und den Pferden reden, und | |
diese Kommunikation befindet sich außerhalb der Sprache. In ihrem Buch | |
"Herztier" erzählt und fühlt sie zugleich, dass es Dinge gibt, die sich mit | |
Worten nicht ausdrücken lassen. Diesen Geisteszustand kenne ich, auch ich | |
unterliege dem Schweigen. Aber in meinen Gedanken erzähle ich weiter. | |
Worüber hätten Sie mit ihr gesprochen? | |
Über ihr Leben in der Diktatur. Was sie uns erzählt, verstehe ich zutiefst, | |
weil es so scheint, als ob sie über die Geschichte des Denkens in der | |
chinesischen Gesellschaft schreibt. Über die Zeiten geistiger Erstarrung | |
und die Zeiten des Krieges, wenn der Drang zu schreiben verloren geht - | |
oder noch stärker wird. | |
Wen würden Sie gern treffen, wenn Sie frei reisen könnten? | |
Außer Herta Müller würde ich gerne noch vielen anderen Autoren begegnen, | |
sowohl Linken wie auch Rechten. Einige davon haben China schon besucht, zum | |
Beispiel ein alter Schriftsteller namens Martin Walser. Er wurde vom | |
Goethe-Institut und vom chinesischen Kulturministerium eingeladen und hat | |
China sehr gepriesen. Wenn es möglich wäre, würde ich ihm gerne über das | |
wirkliche China berichten - ein China, das nicht so ist, wie es an der | |
Oberfläche scheint. | |
In Ihrem Brief an Frau Merkel haben Sie den Film "Das Leben der Anderen" | |
erwähnt. Ist er in China eigentlich bekannt? | |
Sehr sogar. Ich habe sehr viele Raubkopien von dem Film gekauft und | |
verschenkt. Kanzlerin Merkel habe ich zwei Dinge zugeschickt: Meine Musik | |
[Liao spielt eine Art Harmonika und singt, die Red.] und eine Raub-DVD | |
dieses Films aus China. Er kommt bei den Chinesen gut an, viele | |
Intellektuelle leben in einer ähnlichen Situation. Im Film geht es um einen | |
erfahrenen Spitzel, der das Privatleben eines Künstlers belauscht. Eines | |
Tages spielt der Künstler auf dem Klavier Beethoven. Die Schönheit seines | |
Spiels rührt den alten Spitzel, der sich daraufhin in einen Mann | |
verwandelt, der dem Künstler hilft. | |
Könnte so etwas in China passieren? | |
Ich möchte klarstellen: Bei uns sind Sicherheitsleute noch nicht auf unsere | |
Seite gewechselt. | |
Herta Müller schreibt über Informanten in ihrem Umkreis, Fürchten Sie, dass | |
es unter Ihren Freunden und Bekannten auch solche Leute gibt? | |
Mit diesem Thema kann man nur so umgehen: Nicht daran denken, nicht darum | |
kümmern! Sonst würde man sich selbst verändern, das ist wie eine | |
Gehirnwäsche. Wenn man von morgens bis abends daran denkt, weiß man nicht | |
mehr, wie man sein ganzes Leben oder auch nur den nächsten Tag überstehen | |
soll. Man muss so leben, wie man es immer getan hat. Sonst wäre es nicht | |
verwunderlich, wenn man verrückt würde. | |
Sie scheinen sich sehr mit deutscher Kultur zu beschäftigen… | |
Ich lese derzeit Texte über die Berliner Mauer. Ich möchte mehr darüber | |
erfahren. Ich höre auch wieder die Rockoper "The Wall" von Pink Floyd aus | |
den Achtzigerjahren. Damals war sie in China sehr populär. Sie war | |
prophetisch. Als die Musik schon ins Vergessen geriet, stürzte die Berliner | |
Mauer ein. | |
Sie haben immer wieder Menschen aus den untersten Gesellschaftsschichten | |
interviewt. Wie kommt es eigentlich, dass man so wenig vom Leben der | |
höchsten Führer Chinas erfährt? | |
Das ist überall so in kommunistischen Staaten. In der DDR wussten die Leute | |
auch nicht, wie ihre Führer lebten. Nehmen wir Mao Tse-tung. Obwohl überall | |
seine Statuen standen und seine Bilder hingen, wussten wir nichts über ihn. | |
Bis heute erscheinen viele neue Werke, die sein Leben erforschen. Sie | |
stoßen in der Bevölkerung auf großes Interesse. Trotzdem haben wir alle | |
gerufen: "Unser höchster Führer Vorsitzender Mao ist die rote Sonne in | |
unserem Herzen." | |
Wenn Sie die Gelegenheit hätten: Welchen hohen chinesischen Politiker | |
würden Sie gern interviewen, was würden Sie fragen? | |
Danke, kein Interesse. Auf diese Leute habe ich keine Lust. | |
In China gibt es Kritik an den ausländischer Medien: Sie berichteten zu | |
viel über die Schattenseiten. Was sagen Sie? | |
In unserem Land gibt es keine Freiheit der Rede und der Debatte. Die | |
Zeitungen können ihre Kontrollfunktion nicht erfüllen. Die Kritik an | |
ausländischer Berichterstattung wirkt so, als ob man selbst nicht frei | |
schreiben kann und dann fordert, dass sich die Medien auf der anderen Seite | |
des Flusses ebenfalls zurückhalten. Das finde ich ziemlich unvernünftig. | |
Wenn Sie in China ein Literaturfestival organisieren könnten: Wen würden | |
Sie einladen, über welche Themen würden Sie sprechen? | |
Ganz sicher über die Untergrundliteratur, über verbotene Literatur. Das | |
würde sehr viele Leser anziehen. Ich würde Lesungen dieser | |
Untergrund-Literatur veranstalten. Diese Werke und ihre Autoren würden wie | |
die Ratten nach oben kommen. China ist in dieser Hinsicht sehr spannend! | |
Ich würde auch die Leute dazuholen, die unsere Bücher illegal kopieren. | |
Diese Praxis verletzt unsere Interessen. Auf der anderen Seite können | |
unsere Werke überhaupt nur verbreitet werden, weil sie illegal kopiert | |
wurden. Das gilt auch für Filme. Ich würde zum Beispiel sehr gern jene | |
interviewen, die "Das Leben der Anderen" raubkopiert haben. | |
Warum? | |
Ich möchte wissen, warum sie gerade diesen Film zum Kopieren ausgesucht | |
haben, mit welcher Absicht sie es taten. | |
Sie durften nicht nach Deutschland fahren, sie beklagen die fehlende | |
Freiheit der Rede. Hat sich in China denn gar nichts geändert? | |
In Zeiten Mao Tse-tungs wurde das Denken der Menschen so stark | |
kontrolliert, dass alle dasselbe dachten. Aber jetzt gibt es viele Nischen. | |
Die Ratten haben die Erde untertunnelt und ausgehöhlt. Oberflächlich | |
gesehen, ist dieses Land schön geordnet, die Wirtschaft entwickelt sich, | |
überall stehen hohe Häuser. Aber darunter gibt es überall Löcher. Deshalb | |
finde ich die Gesellschaft an der Basis interessanter als alles andere in | |
China. Da unten können sich die Menschen entspannen, über die Regierung | |
debattieren, über alles sprechen. Das gab es zu Zeiten Mao Tse-tungs nicht. | |
19 Mar 2010 | |
## AUTOREN | |
Jutta Lietsch | |
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