# taz.de -- Arabischer Frühling: Willkommen in der neuen Welt | |
> Seit 20 Jahren berichtet unser Korrespondent aus Ägypten. Aber was jetzt | |
> passiert, davon hätte er noch nicht einmal zu träumen gewagt. | |
Bild: Die Staatsmacht versucht die Kontrolle über die Straßen wieder zu gewin… | |
KAIRO taz | Vor zehn Tagen stand ich am Flughafen in Tunis an der | |
Passkontrolle. Der Beamte blätterte nicht, wie ansonsten in meiner Region | |
üblich, grimmig in meinem Pass. Er würdigte mein Reisedokument kaum eines | |
Blickes. Stattdessen drängte es ihn, sich mit den wenigen Ankommenden zu | |
unterhalten. "Was hältst du von unserer Revolution?", leitete er die | |
Konversation ein. Als ich ihm zulächelte und sagte, dass wir hoffen, in | |
Ägypten demnächst etwas Ähnliches anzufangen, brachen bei dem Beamten alle | |
Dämme. Er hielt einen langen Vortrag, wie stolz er auf die Tunesier sei. Um | |
mich am Ende mit einem fröhlichen "Viel Spaß bei der Arbeit und pass auf | |
dich auf" zu verabschieden. "Willkommen in der neuen arabischen Welt", | |
dachte ich mir. Noch vor zwei Tagen war der gleiche Grenzbeamte ein Teil | |
des Apparats des Diktators Ben Ali und hätte jedem Journalisten den Einlass | |
verwehrt. | |
Während ich diese Zeilen schreibe, sitze ich wieder in meinem Haus in | |
Kairo. Es sind keine zwei Wochen vergangen. Was ich dem tunesischen | |
Grenzbeamten noch zur Aufmunterung gesagt habe, ist schneller Wirklichkeit | |
geworden, als ich zu träumen gewagt hatte. Draußen auf den Straßen von | |
Ägypten tobt die Revolte gegen das Regime des Präsidenten Husni Mubarak. | |
Zwei Jahrzehnte lang habe ich in dieser Region als Korrespondent | |
gearbeitet. Es waren 20 Jahre der politischen Stagnation, unterbrochen von | |
heftigen Krisen, zwei Kriegen im Irak, einem im Libanon und einem in Gaza. | |
Die Lieblingsgeschichten meiner Redaktionen handelten von den Themen | |
al-Qaida und Islamisten. Gerade gestern musste ich lächeln, als ich im | |
Fernsehen die großen Demonstrationen im Jemen gegen Präsident Ali Abdullah | |
Saleh sah. Es ist genau ein Jahr her, da gab es kein anderes Thema, als den | |
Weihnachtstag-Bomber, der versucht hatte, ein US-Verkehrsflugzeug in die | |
Luft zu jagen. Der ganze Plott war im Jemen geplant, genauso wie später die | |
gescheiterten Paketanschläge. | |
Jemen ist gleich al-Qaida, lautete das mediale Gebot des Tages. Und jetzt | |
das. Friedliche Demonstrationen für einen Regimewechsel der nicht von | |
Washington, sondern von den Menschen initiiert wird. Selbst Ussama Bin | |
Laden, der normalerweise gern mit bizarren Videobotschaften die Ereignisse | |
in der arabischen Welt von der Seitenlinie seines Verstecks kommentiert, | |
hat es offensichtlich im Moment die Sprache verschlagen. | |
Und auch in Ägypten hatte das Jahr mit einem schlimmen Attentat begonnen. | |
Das Jahr war noch keine Stunde alt, da sprengte sich jemand in einer | |
koptischen Kirche in Alexandria in die Luft. Der Anruf ereilte mich, als | |
ich von meiner Silvesterfeier in angeheitertem Zustand auf dem Weg nach | |
Hause war. "Dieses Jahr kann ja heiter werden", dachte ich mir und hatte | |
nicht die leiseste Ahnung, wie es im arabischen Drehbuch tatsächlich | |
weitergeht. | |
Hätte mir jemand erzählt, dass demnächst das Regime Mubarak kurz vor dem | |
Sturz steht, und Ben Ali wie ein Dieb bei Nacht aus Tunis flieht, ich hätte | |
ihn wahrscheinlich auch wegen des Alkoholeinflusses hysterisch ausgelacht. | |
Das ist keinen Monat her. | |
Es ist auch keinen Monat her, dass mein Telefon in Kairo heißlief und alle | |
Redaktionen Geschichten über die Diskriminierung von Christen in Ägypten | |
und der gesamten arabischen Welt einforderten. Am Freitag gingen die | |
Ägypter erneut auf die Straße, um nach dem Freitagsgebet gegen das Regime | |
zu protestieren. Das Schöne dabei: Über SMS wurden lange Listen verschickt, | |
von welchen Moscheen die Proteste losgehen sollen. | |
Auf der Liste stehen aber auch zahlreiche Kirchen. Sie marschieren vereint | |
gegen das verhasste Regime. Ein wenig war die gleiche Atmosphäre schon | |
spürbar bei den Protesten nach dem Anschlag in Alexandria. Als vor allem | |
junge Christen auf die Straße gingen, aber oft begleitet von muslimischen | |
Jugendlichen, die damals schon gemeinsam gegen Mubarak protestiert hatten, | |
weil das Regime sich nicht ausreichend um den Schutz der Kopten kümmert und | |
sie im staatlichen Apparat diskriminiert. Anstatt aufeinander loszugehen, | |
hatten sie schon damals ihren Ärger gegen das Regime gerichtet. | |
Sie hatten ihm sogar vorgeworfen einen muslimisch-christlichen Zwist zu | |
schüren, um mit dieser Ablenkungsstrategie sich selbst an der Macht zu | |
halten. Damals, als die Jugendlichen mit selbst gemachten Plakaten mit | |
Halbmond, Sichel und Kreuz, "Nieder mit Mubarak" riefen, hätte man | |
vielleicht schon ahnen können, was nur drei Wochen später geschehen wird. | |
"Unsere Jugendlichen rennen zehn Schritte voraus, und weder die Politik | |
noch wir Journalisten kommen hinterher", hatte mir in Tunis der | |
Chefredakteur einer Tageszeitung erklärt. Wie recht er hat. Diese Mischung | |
aus Arbeitslosen, gut ausgebildeten Jugendlichen, Intellektuellen und | |
Menschen aus allen Bereichen und allen Schichten, die sich den | |
Regimewechsel jenseits aller Religionszugehörigkeit und sozialem Status auf | |
die Fahnen geschrieben hat, angetrieben, aber nicht geführt, von einer | |
neuen Facebook-, Twitter- und Blogger-Generation, ist etwas völlig Neues. | |
Bisher hat man im Westen für die arabische Politik eine einfache Rechnung | |
aufgestellt. Es gab das Regime und die Islamisten, den Diktator oder die | |
Moschee. Im Moment wird die politische Landschaft der arabischen Welt | |
völlig umgepflügt, und keiner weiß, welche neuen Pflanzen aus dem Boden | |
sprießen werden. Sie werden sich aber nicht mit den alten politischen | |
Kategorien fassen lassen. Es ist nicht nur ein Politik-, sondern auch ein | |
Generationswechsel, der hier gerade stattfindet. Und die neue Generation | |
weiß zwar, wie sie mit dem Internet umgehen kann, aber sie ist noch nicht | |
politisch organisiert. | |
Aber eines ist sicher, die politische Landschaft der arabischen Welt wird | |
bunter. Und auch die Islamisten werden dort ihren Platz finden, wenngleich | |
sie sicher nicht im säkularen Tunesien und wahrscheinlich auch in Ägypten | |
nicht den größten Platz einnehmen werden. Es entsteht eine völlig neue | |
politische Pluralität. Jenseits des Diktators und der Moschee. | |
Dass der Übergang kein leichter ist, zeigt der Vorreiter Tunesien, wo | |
gerade darum gerungen wird, wie viel alte Garde man im Staatsapparat | |
braucht, um sanft in die neue Zeit hinüberzukommen, ohne dem Alten die | |
Chance zu geben, noch einmal Fuß zu fassen. Dass es ein Fehler ist, das | |
Alte zu schnell vollkommen zu kappen, ohne etwas Neues aufgebaut zu haben, | |
das war im Irak zu sehen, der nach der Auflösung der Baath-Partei, der | |
Armee, der Polizei ins absolute Chaos gestürzt war. | |
In diesem Moment ist Ägypten fast vom Rest der Welt abgeschnitten. Die | |
Internetleitungen sind gekappt, die Handynetzwerke unterbrochen. Es | |
erinnert mich ein wenig an die Situation nach den letzten Wahlen im Iran, | |
wo ich ebenfalls vor Ort berichtet habe. Das Kappen des Internets war der | |
Beginn einer Kampagne des iranischen Sicherheitsapparats, die | |
Oppositionsbewegung niederzumachen. | |
Aber auch in Tunesien hat man versucht, die Kommunikationswege der | |
Jugendlichen zu unterbrechen. Ein junger Mann der damals heftig gegen das | |
Regime gebloggt hat, ist heute der neue tunesische Minister für Jugend. | |
28 Jan 2011 | |
## AUTOREN | |
Karim Gawhary | |
Karim El-Gawhary | |
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