# taz.de -- Augenzeugenbericht von Kairos Straßen: "Lasst Eure Stimme hören" | |
> Tränengas, Gummigeschosse, brennende Autos. Auf Kairos Straßen kommt es | |
> zu heftigen Kämpfen zwischen Polizei und Demonstranten. Eine Berlinerin | |
> berichtet. | |
Bild: Prügelnde Polizisten, stürmische Demonstranten: Anfänge der Proteste i… | |
Es ist zehn Uhr abends in Kairo. Ich sitze mit zwei Freundinnen in meiner | |
kleinen Wohnung im Stadtviertel Downtown bei einer Flasche Wein. Seit drei | |
Jahren studiere ich hier an der amerikanischen Universität, der AUC, und | |
ich habe in dieser Zeit schon viele Abende so verbracht. Aber dieser ist | |
anders, denn morgen "riskieren wir alle für unser Land unser Leben", wie | |
Salma trocken bemerkt. Wir lachen. Wirklich glauben wir daran nicht. Sie | |
schiebt hinterher, wie froh sie ist, dann doch wenigstens heute noch Sushi | |
gegessen zu haben. | |
Wir schweben zwischen freudiger Erregung und Nervosität, aber ich weiß, | |
dass es für meine Freund bitterer Ernst ist. Sie sind Teil der ägyptischen | |
Demokratiebewegung, sie haben lange auf das gewartet, was jetzt hier | |
passiert, und dafür gekämpft. Ich fühle mich mit ihnen und ihrem Land | |
inzwischen so verbunden, dass ich nicht aus Schaulust zu dem Protest gehen | |
werde. Die Entwicklungen hier sind mir wichtig, und ich bin ein Teil davon. | |
Am nächsten Morgen, am Freitag, fahren wir zu einem anderen Stadtviertel, | |
um uns dort mit Freunden zu treffen. Mir ist es auch ganz lieb, mein Auto | |
aus Downtown herauszuschaffen - man weiß ja nie. "Nimm lieber Deine | |
Ohrringe raus, sonst reißt Dein Ohrläppchen, wenn sie dich festhalten", | |
sagt Nada zu Mariam, bevor wir uns dem Protestzug zum zentralen | |
Tahrir-Platz anschließen. Unterwegs treffen wir viele Freunde und Bekannte. | |
Die Stimmung ist fröhlich. Wir rufen Leuten, die auf ihren Balkonen stehen, | |
zu: "Lasst eure Stimme hören, wer herunterkommt, wird nicht sterben." Nur | |
eine Stunde später hustet mir Mariam unter Tränen zu: "Ich glaube, wir | |
haben uns geirrt." | |
Das erste Tränengas trifft mich überraschend, und mir bleibt die Luft weg. | |
Meine Freunde schleppen mich zu einer nahe gelegenen Tankstelle und | |
übergießen mein Gesicht mit Essig und Cola. Mariam drückt mir eine Maske | |
aus Papier in die Hand. All das sind Mittel, die angeblich helfen sollen. | |
Aber wie ich da so an der Tankstelle hocke und krampfhaft versuche, mir | |
nicht die Augen zu reiben, habe ich nicht den Eindruck, dass sie das tun. | |
Plötzlich brennt vor uns ein Polizeiwagen, und die Menge kann auf die bis | |
dahin gesperrte Brücke nach Downtown rennen. Aber im Gedränge verlieren wir | |
uns. Nur Mariam ist noch bei mir. Wenn man sich solche Situationen vorher | |
vorstellt, denkt man an heldenhaftes Zusammenstehen und das Umklammern von | |
Händen. In der Realität sind die anderen einfach plötzlich weg. Da kein | |
Handy funktioniert, gibt es auch keine Möglichkeit, irgendjemanden zu | |
erreichen, und wir sehen unsere Freunde bis zum nächsten Morgen nicht mehr. | |
Auf dem letzten Stück der Brücke fliegt auf einmal mehr Tränengas als | |
zuvor. Als ich meine Augen wieder öffnen kann, sehe ich, dass um uns herum | |
niemand mehr ist, und dass sich zwei Wasserwerfer langsam auf uns zu | |
bewegen. Mariam und ich rennen zurück. Das ist eine gute Idee, denn kurz | |
darauf fängt die Polizei an, mit Gummigeschossen auf Kopfhöhe zu zielen. | |
Blutende Menschen werden an uns vorbei getragen. | |
Irgendwann gelingt es den Demonstranten, die Polizei zurückzudrängen, und | |
irgendwann kommen auch wir von der Brücke herunter und fast bis zum | |
Tahrir-Platz. Inzwischen ist es dunkel geworden, und ich habe meiner Mutter | |
in Berlin versprochen, wenigstens nicht nachts zu demonstrieren. Ich sollte | |
nach Hause gehen, aber zu Hause, nur wenige hundert Meter von hier | |
entfernt, ist auf der anderen Seite des Platzes, und da brennt inzwischen | |
die Stadt. Jedenfalls sieht es so aus. Dann rufen Leute uns zu, dass die | |
Polizei jetzt scharf schießt. Mariam und ich rennen zurück, zurück über die | |
Brücke. Mit immer noch zitternden Knien erreichen wir ein Hotel. Dort | |
erfahren wir, dass eine Ausgangssperre verhängt wurde, die wir bereits | |
brechen. | |
Wir schaffen es, mein Auto zu erreichen und finden bei Freunden in einem | |
anderen Stadtviertel Unterschlupf, wie viele andere auch. Wieder ist es | |
zehn Uhr abends in Kairo, und ich schaue auf die Leute in der Wohnung, die | |
sich um Fernseher und Telefon gruppieren. Es fällt mir schwer, Tränen | |
zurückzuhalten. Ich habe heute so viel Solidarität erlebt. Fremde, die sich | |
darum kümmerten, dass man in Ordnung war, Leute, die Tränengasbomben nahmen | |
und sie in den Nil warfen, und Männer, die sich in Paniksituationen | |
schützend vor uns stellten. Es war überwältigend. | |
Unterwegs hatten wir einen Anhalter in Zivilkleidung mitgenommen. Wie sich | |
herausstellte, war er ein Polizist, der die Uniform ausgezogen hatte und | |
jetzt an seiner Berufswahl zweifelte: "Ich weiß gar nicht, wie ich das | |
machen konnte! Ich habe eine Familie, Frau und Kind, bekomme nur 500 Pfund | |
im Monat! Wenn du Befehle verweigerst, drohen sie dir deine Kinder zu | |
töten. Ich bin raus! Das war's für mich." Haben wir gewonnen? | |
Inzwischen ist Sonntag, ich bin wieder in Downtown. Alle paar Minuten | |
fliegen Kampfflugzeuge über unser Haus. Es hört sich an, als würde ein | |
Schnellzug durch mein Zimmer fahren. | |
30 Jan 2011 | |
## AUTOREN | |
Nora Mbagathi | |
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