# taz.de -- Debatte Arabische Revolution: Der lange Weg in die Freiheit | |
> Gerade Deutsche sollten wissen: Demokratie braucht Zeit. Der Westen | |
> sollte den Prozess unterstützen, ohne sich zu sehr einzumischen. | |
Bild: Entschlossen zum Umsturz: Demonstrantin in Sanaa am Dienstag. | |
Revolutionen sind Lokomotiven der Geschichte" erkannte Karl Marx. Ihr | |
Fahrtziel in Arabien wie in Europa ist die Befreiung des Menschen durch den | |
Menschen. Gelegentlich führte die Reise rasch und ungefährdet zum Erfolg, | |
so wie im November 1989 in Europa. Häufiger aber währt die Tour unerwartet | |
lange, ehe die große Freiheit erreicht ist. | |
Die Tunesier und Ägypter haben ihre Diktatoren gestürzt. Gegenwärtig | |
erleben wir die Agonie der Gewaltherrscher in Libyen, Jemen, Syrien. Wer | |
wird ihnen folgen? Wie wird sich Arabien entwickeln? Prognosen seien | |
schwierig, wenn sie die Zukunft betreffen, ironisierte Mark Twain. Doch aus | |
der Geschichte kann man lernen. | |
Im März 1848 revoltierten Deutschlands Bürger gegen ihre Unterdrückung | |
durch reaktionäre Potentaten. Sieht man vom 12-jährigen Freiheitsintermezzo | |
der zerbrechlichen Weimarer Demokratie ab, dauerte es nach Nazikrieg und | |
Völkermord gut ein Jahrhundert, bis die Bundesrepublik Deutschland 1949 | |
geschaffen wurde. Westdeutschland hatte endlich zur Demokratie gefunden. 40 | |
Jahre später überwanden die Bürger friedlich die SED-Diktatur. Die Russen | |
üben seit 1917 lupenreine Demokratie. | |
Dies sind die zeitlichen Dimensionen, die Revolutionen benötigen, um ihre | |
sozialen Kräfte in stabile demokratische Bahnen zu lenken. "Der" arabischen | |
Welt sind kürzere Distanzen und weniger Opfer auf dem Pfad zur Freiheit zu | |
wünschen. | |
Entscheidende Mankos vieler arabischer Länder sind mangelhafte Bildung, das | |
Fehlen demokratischer Traditionen sowie ein fundamentalistischer Islam. In | |
einzelnen arabischen Staaten sind bis zu 50 Prozent der Bevölkerung | |
Analphabeten. Menschen, die weder lesen noch schreiben können, schätzen die | |
Freiheit nicht weniger als Gebildete, doch ihre Informationsmöglichkeiten | |
sind beschränkt. | |
## Motor der Revolution | |
Den arabischen Gesellschaften fehlt es an Demokratie-Erfahrung. Seit dem | |
19. Jahrhundert beuten die Kolonialmächte Frankreich, Großbritannien und | |
Italien die arabischen Länder aus. Politische Partizipation der Bevölkerung | |
ließen sie nicht zu. Heute sind die Araber nicht länger bereit, Diktaturen | |
hinzunehmen, in denen das Volk verarmt, seine Rechte missachtet werden. | |
Jüngere Akademiker besaßen bislang kaum Chancen, adäquate Berufe auszuüben | |
und ein menschenwürdiges Einkommen zu verdienen. | |
Ägypten ist nicht die arabische Welt. Doch hier wird über den Erfolg der | |
arabischen Revolution entschieden: durch die schiere Quantität seiner | |
84-Millionen-Bevölkerung, die knapp ein Viertel Arabiens ausmacht, die | |
Qualität seiner Bildungsschicht und die zentrale Stellung Ägyptens im | |
arabischen Raum. Hervorzuheben ist auch, dass die Revolutionäre hier | |
bislang weitgehend gewaltlos vorgingen. | |
1952 putschten sich die Freien Offiziere unter Führung Gamal Abdel-Nassers | |
an die Macht und proklamierten eine Republik. Ihr Ziel war ein freies und | |
modernes Ägypten, in dem soziale Gerechtigkeit herrschen sollte. | |
Tatsächlich aber errichteten Nasser und seine Nachfolger eine | |
Militärdiktatur. Oppositionsgruppen wie die 1928 gegründeten Muslimbrüder | |
wurden ausgeschaltet, das Potenzial des Landes wurde in Kriegen gegen | |
Israel vergeudet. Doch breiten Schichten wurde zugleich der Zugang zu | |
Schulen und Universitäten ermöglicht: Nun sind sie der Motor der | |
Revolution. | |
Wer die neuen Kommunikationstechniken beherrscht, kostet die Früchte der | |
Freiheit. Das sind jedoch nicht die Herrschaftssysteme des Westens. Am | |
wichtigsten sind der islamischen Bevölkerung soziale Gerechtigkeit und ein | |
größere Bedeutung der Religion. Laut einer Umfrage des Pew Research Center | |
wollen 95 Prozent der ägyptischen Muslime, dass der Islam im Staat eine | |
größere Rolle spielt. Das birgt die Gefahr von Konflikten mit den | |
christlichen Kopten. | |
Die Muslimbrüder werden nach der Führung im Staat greifen. Ihre Aussicht, | |
freie Wahlen zu gewinnen, ist gut. Es gibt mehr als drei Millionen aktive | |
Muslimbrüder. Die Bewegung unterhält ein Netzwerk von sozialen | |
Einrichtungen, Krankenhäusern, Schulen. Die modernen, weltlich orientierten | |
Freiheitsaktivisten dagegen haben wenig politische und organisatorische | |
Erfahrung und keine im Lande verwurzelten Galionsfiguren. Die Muslimbrüder | |
aber können mit charismatischen Persönlichkeiten aufwarten. | |
Am populärsten ist Scheich Jussuf al-Qaradawi: Seinen TV-Predigten lauschen | |
Millionen Gläubige in ganz Arabien. Qaradawi propagiert die "Vereinigten | |
Islamischen Staaten" - ein modernes Kalifat, in dem die Scharia, das Gesetz | |
des Islam, verbindlich sein soll, und fordert, die "Zionisten bis zum | |
Letzten von ihnen zu töten". Bei seiner ersten Predigt auf dem Kairoer | |
Tahrirplatz rief er dazu auf, die Al-Aksa-Moschee in Jerusalem zu | |
"befreien". Dies würde Krieg gegen Israel bedeuten. | |
## Iran ist kein Vorbild | |
Dennoch sollte der Westen sich hüten, dabei zu helfen, eine Machtübernahme | |
der Muslimbrüder gewaltsam zu vereiteln. Dies geschah vor 20 Jahren in | |
Algerien. Es folgte ein Bürgerkrieg. In Ägypten wären die Ausmaße einer | |
solchen Auseinandersetzung gewaltig. | |
Die Ägypter beobachten aufmerksam das Geschehen in Iran. Die Republik des | |
Ajatollah Chomeini, zunächst von Demokraten unterstützt, wird heute von | |
fundamentalistischen Mullahs und Revolutionsgarden beherrscht, die eine | |
bürgerliche Freiheitsbewegung brutal niederhalten. Der heutige Iran ist | |
deshalb kein Vorbild für die Ägypter, nicht einmal für einen Großteil der | |
Muslimbrüder. | |
Wir haben die arabische Revolution respektvoll anzuerkennen und sollten | |
darauf eingehen - durch verstärkten kulturellen und intellektuellen | |
Austausch und politische Dialoge, auch mit den Muslimbrüdern, sowie | |
wirtschaftliche Kooperation. Doch wir sollten unter allen Umständen | |
vermeiden, militärisch oder durch Drohungen in das Geschehen einzugreifen. | |
Die arabische Revolution ist eine Chance für mehrere hundert Millionen | |
Menschen, ein höheres Maß an Freiheit, kultureller Vielfalt und Wohlstand | |
zu erlangen. Sie verdient daher unsere Unterstützung. Wie lange sie währt, | |
wissen wir nicht. Doch am Ende könnte eine friedlichere Welt stehen. | |
Inschallah. | |
11 Apr 2011 | |
## AUTOREN | |
Rafael Seligmann | |
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