# taz.de -- Rebellen in Bengasi: Der Traum von einem anderen Libyen | |
> In Bengasi hat sich nicht nur die Politik verändert. Auch die | |
> konservative Stammesgesellschaft ist im Umbruch. "Es ist ein Aufatmen", | |
> sagt ein Lehrer. | |
Bild: "Nato, wir verlangen den Schutz von Zivilisten": Demonstration in Bengasi. | |
BENGASI taz | "Wir Libyer sind politisch ein vollkommen unbeschriebenes | |
Blatt", meint der junge Lehrer Mahmud Buschaal. Das habe Vor- und | |
Nachteile. "Natürlich sind wir nicht politisch organisiert und ein wenig | |
unbedarft, aber bei einem weißen Bogen Papier hat man alle Möglichkeiten | |
ihn vollzuschreiben." | |
Während er das sagt, sitzt er, eingewickelt in einer der rot-schwarz-grünen | |
Fahnen der Rebellen, vor seinem Zelt am Gerichtsplatz in Bengasi. Ähnlich | |
wie der Tahrirplatz in Kairo hat sich der Gerichtsplatz in den vergangenen | |
Wochen zum politischen Zentrum der Aufständischen entwickelt. Um den | |
revolutionären Flair zu unterstützen, hat er eine Baskenmütze über den Kopf | |
gezogen, der Gesamteindruck wird mit einer coolen Sonnenbrille unterstützt, | |
die ihn mittags vor der libyschen Frühlingssonne schützt. | |
Der Lehrer hat geschworen, so lange in seinem Zelt auf dem Gerichtsplatz | |
auszuharren, bis Muammar al-Gaddafi als Diktator in diesem Land nirgends | |
mehr sein Zelt aufschlagen kann. Mahmud grinst. Eine Gruppe von vier | |
anderen jungen Revolutionären lacht. Sie alle haben sich auf einem Kreis | |
von Plastikstühlen direkt an der Uferpromenade des Mittelmeers | |
zusammengefunden, um zu erzählen, was die libysche Revolution für sie | |
persönlich bedeutet. | |
"Das ist eine Revolution aus unserem Herzen, ein offener Karneval, um den | |
Albtraum Gaddafi endlich loszuwerden", führt Mahmud weiter aus. "Es ist ein | |
Aufatmen. Völlig frei wie hier reden zu können, zum Beispiel mit dir als | |
Journalisten. Etwas, das zu Zeiten von Gaddafis Herrschaft über Bengasi | |
völlig unmöglich war." Die anderen nicken zustimmend. | |
## Vor Freude geweint | |
Auch Essrat Betmaar schildert das Ganze als ein Fest. Die ersten Tage habe | |
sie immer wieder vor Freude geweint, erinnert sich die junge Lehrerin. | |
"Endlich ist es vorbei, dass man als Libyer im Ausland mit dem System | |
Gaddafi gleichgesetzt wird", sagt sie, die mehrere Jahre in der Schweiz | |
gelebt hat. | |
Ob sie nicht Angst haben, dass ihnen die Revolution weggenommen wird? | |
Schließlich sitzen im Nationalrat, der Führung der Rebellen, auch ehemalige | |
Vertreter des Gaddafi-Regimes. Sie überlegen eine Weile. Der Nationalrat | |
sei nur vorübergehend im Amt. Wenn ganz Libyen frei sei, würden Wahlen | |
durchgeführt, sagt Mahmud. "Und wenn den Jugendlichen irgendetwas nicht | |
passt, dann gehen sie eben wieder auf die Straße", meint der junge Beamte | |
Musadaq Saleh. In Zukunft soll es heißen: "Vier Jahre Präsident, und dann | |
tschüss." Wieder lachen die anderen in der Runde. | |
Später, etwas abseits, schlägt ein anderer junger Mann doch auch etwas | |
kritischere Töne an: "Der Nationalrat ist zu undurchsichtig", beschwert | |
sich Ahmad Scharif, der beim neuen Fernsehsender der Rebellen, Libyia, | |
arbeitet. Natürlich gebe es dort Vertreter des alten Regimes, und so | |
mancher spiele sich gegenüber den Amerikanern auf, obwohl er in | |
Wirklichkeit wenig Einfluss habe, schimpft er. Aber auch er glaubt an die | |
Korrektivkraft der Demonstranten. | |
Zurück in der Runde ist inzwischen ein weiterer junger Mann, Muhammad Fadl, | |
dazugekommen. Er sieht aus wie ein überdimensionaler Teddybär, der Bart | |
gibt ihm einen leicht islamistischen Anstrich. | |
Aber Muhammad winkt lächelnd ab. Er sei nicht von al-Qaida, er komme gerade | |
von der Front und habe keine Zeit gehabt sich zu rasieren, erzählt er. Ob | |
er keinen Groll gegen die anderen Anwesenden hegt, weil er als Einziger aus | |
der Runde an der Front den Kopf hinhält? Muhammad schüttelt den Kopf. "Es | |
macht es keinen Unterschied, ob jemand mit der Waffe in der Hand gegen | |
Gaddafi kämpft oder hier auf dem Platz die Revolution voranbringt. Wir | |
ziehen alle an einem Strang. Jeder und jede hat ihren Platz", sagt er und | |
blickt auf Essrat. | |
## Die Frauen waren von Anfang an dabei | |
Es sei überhaupt eine der aufregendsten Dinge dieses Aufstands, erwidert | |
sie, dass nämlich die Frauen von Anfang an auf der Straße daran | |
teilgenommen hätten. Bengasi sei eine konservative, sehr stark von | |
Stammestraditionen beeinflusste Gesellschaft. Aber in diesen Tagen hätten | |
sich die Frauen eine neue Rolle in der Öffentlichkeit erkämpft. Dann | |
entschuldigt sie sich in Schweizerdeutsch und geht weg. | |
Vom Hafen her zieht eine Frauendemonstration Richtung Gerichtsplatz. Einige | |
der Frauen tragen Uniform. Bengasi ist eine große revolutionäre Baustelle. | |
Gaddafi mag noch in Tripolis herrschen. In Bengasi hat sich nicht nur die | |
Politik verändert, auch die konservative libysche Stammesgesellschaft ist | |
hier im Umbruch. | |
Auch Muhammad zieht seines Wegs. Von der anderen Seite kommend tragen | |
Demonstranten einen Sarg über den Platz. Einer der zahlreichen an der Front | |
getöteten Bewohner Bengasis, denen jeden Tag auf dem Gerichtsplatz das | |
letzte Geleit gegeben wird, bevor auch sein Foto an die "Galerie der | |
Märtyrer" an die Außenwand des Gerichts geklebt wird. | |
Zwei Rebellen nehmen ihre Kalaschnikows und leeren ein Magazin zum letzten | |
Salut in die Luft. Muhammad hat sich dem Trauerzug angeschlossen. "Gott ist | |
groß, und Muammar Gaddafi ist sein Feind!", ruft er mit den anderen, ein | |
für die Situation leicht umgewandeltes islamisches Glaubensbekenntnis. | |
Essrat auf der Frauen-, Muhammad auf der Märtyrer-Demonstration - es ist | |
ein bunter Haufen meist junger Leute, der sich jeden Tag vor dem | |
Gerichtsgebäude in Bengasi versammelt. Auch der Rest der Gesprächsrunde | |
löst sich auf. Der Lehrer Mahmud geht wieder in sein Zelt. "Wir mögen sehr | |
unterschiedlich sein, aber in einem sind alle hier gleich", sagt er. "Wir | |
haben das erste Mal unser Selbstbewusstsein und unsere Würde gefunden". | |
11 Apr 2011 | |
## AUTOREN | |
Karim Gawhary | |
Karim El-Gawhary | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Arabische Revolutionen: "Demokratie ist der einzige Weg" | |
Arabische Intellektuelle haben der Revolte den Weg bereitet, meint der | |
Philosoph Sadiq al-Azm. Doch viele haben sich auch kompromittiert. | |
Libyen-Kontaktgruppe: Gaddafis Rücktritt gefordert | |
Die Libyen-Kontaktgruppe berät in Doha über eine politische Lösung. Italien | |
und Katar wollen die Rebellen bewaffnen. Fünf libysche Diplomaten müssen | |
Deutschland verlassen. | |
Bürgerkrieg in Libyen: Babymilch und Kämpfer für Misrata | |
Die Rebellen in Bengasi versuchen, die belagerte Stadt Misrata mit Booten | |
zu versorgen. Dort fehlt es an allem – Decken, Lebensmitteln, Waffen. Drei | |
Tage dauert die riskante Überfahrt. | |
Bürgerkrieg in Libyen: EU kritisiert Nato | |
Frankreich und Großbritannien fordern stärkere Angriffe der Nato gegen | |
Gaddafis Truppen. Die Nato wies die Kritik zurück. Gaddafi drohte indes | |
Hilfsaktionen der EU mit Gewalt zu beantworten. | |
Bürgerkrieg in Libyen: Rebellen beharren auf Rücktritt | |
Die Rebellen lehnen den von der Afrikanischen Union vorgeschlagenen | |
Friedensplan ab. Unterdessen brachten sie die Stadt Adschdabija im Osten | |
wieder unter ihre Kontrolle. | |
Debatte Arabische Revolution: Der lange Weg in die Freiheit | |
Gerade Deutsche sollten wissen: Demokratie braucht Zeit. Der Westen sollte | |
den Prozess unterstützen, ohne sich zu sehr einzumischen. | |
Kommentar Nato-Einsatz Libyen: Grenzen der Militärgewalt | |
Es kann nicht die Aufgabe der Nato sein, den Rebellen zur Eroberung von | |
Tripolis zu verhelfen. | |
Bürgerkrieg in Libyen: Afrikanische Union fordert Waffenruhe | |
Eine Gruppe der Afrikanischen Union ist auf dem Weg nach Libyen. Sie | |
fordern die Einstellung der Kampfhandlungen - doch die gehen weiter. Selbst | |
die Nato glaubt nicht an eine militärische Lösung. |