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# taz.de -- Wo Ägypten heute steht: Zwei Schritte vor, einen zurück
> Politik in Ägypten ist derzeit eine Aushandlungssache zwischen Militär
> und Demonstranten. Die Kräfte des Wandels haben noch nicht gesiegt.
Bild: Einst Platz der Revolution, jetzt politisches Korrektiv: der Tahrirplatz …
KAIRO taz | "Alte Regime sind wie Eis, sie brauchen eine Weile, bis sie in
der Sonne wegschmelzen" - ein Satz, mit dem Ibrahim Eissa, der
prominenteste ägyptische Dissidentenjournalist, seine Landsleute dazu
aufrief, mit Revolution und politischem Wandel am Nil etwas Geduld zu
haben.
Das war vor wenigen Wochen. Er konnte noch nicht ahnen, dass eine Woche vor
Ostern eine regelrechte Hitzewelle Kairo fest im Griff haben würde und das
nicht nur klimatisch, sondern auch politisch. Das Eis, das das Land in drei
Jahrzehnten der Herrschaft des gestürzten Präsidenten Husni Mubarak in
Froststarre versetzt hatte, schmilzt schneller als erwartet.
Innerhalb weniger Tage landeten die beiden Söhne Gamal und Alaa in Kairo in
Untersuchungshaft. Sie werden ebenso von der Staatsanwaltschaft verhört wie
Husni Mubarak selbst, der noch mit Herzproblemen im Krankenhaus im Badeort
Scharm al-Scheich liegt. Der ehemalige Präsident und seine Söhne befinden
sich den Krankenhausberichten zufolge in einer Art Schockzustand und können
es nicht fassen, was mit ihnen geschieht. Die ägyptische Presse feierte die
Verhaftungen als Beweis dafür, dass in Ägypten niemand mehr außerhalb des
Gesetzes stehe. "Der Fall des großen Kopfes bedeutet, dass die
Konterrevolution ihre Führung verloren hat", schreibt die unabhängige
Tageszeitung al-Masy al-Youm.
Wenige Tage darauf gab es Jubelszenen in Ägyptens oberstem
Verwaltungsgericht, als die Richter die Auflösung der
National-Demokratischen Partei (NDP), der vormaligen Regierungspartei,
verkündeten. Deren Guthaben und Gebäude in 29 Provinzen sollen konfisziert
werden. Laut dem Parteiengesetz sollten Parteien zur Demokratisierung und
Nationalen Einheit aufrufen, die NDP habe aber die Macht monopolisiert,
soziale Spaltung provoziert und die Freiheitsrechte der Verfassung
missachtet, heißt es in dem Urteil. Die Parteiführung habe ihre Positionen
ausgenutzt, um ein riesiges Vermögen anzuhäufen und sich mit
Geschäftsleuten zusammengetan, die der Partei für ihre eigenen persönlichen
und finanziellen Interessen beigetreten seien.
"Es ist ein Schlag ins Gesicht der arroganten NDP-Mitglieder oder besser
gesagt: der früheren NDP-Mitglieder, die ihre Verbrechen gegen dieses Land
nicht zugeben wollen", feierte die ägyptische Bloggerin Zeinobia.
## Militärführung billigt Abrechnung
Der Diktator in U-Haft, dessen wichtigstes Instrument, die NDP, aufgelöst:
Zwei Monate nach dem Sturz des Diktators marschiert die ägyptische
Revolution in großen Schritten voran. Die Militärführung, die bis zu den
angekündigten Parlamentswahlen im September und den Präsidentschaftswahlen
im Dezember kommissarisch das Land verwaltet, billigt diese Abrechnung mit
dem alten Regime. Allerdings ist das Verhalten der Militärs durchaus
ambivalent. Immer wieder riefen sie die Ägypter dazu auf, nicht mehr zu
demonstrieren, sondern zur Arbeit zu gehen. In einem vollkommen absurden
Schritt versuchte die Militärführung zwischenzeitig sogar, Streiks und
Demonstrationen ganz zu verbieten.
Als es am vorletzten Wochenende bei Zusammenstößen zwischen Militärs und
Demonstranten auf dem Tahrirplatz dann noch mindestens einen Toten gab,
wurde der Vorwurf immer lauter, dass die Militärführung das alte Regime
erhalten wolle.
Das Verhältnis zum Militär wird auch durch das Schicksal Hunderter, meist
junger Menschen getrübt, die in den letzten Wochen vom Militär festgenommen
und in Militärtribunalen abgeurteilt wurden, manchmal auf Demonstrationen,
oft weil sie die Ausgangssperre missachtet haben sollen. "Die Verhaftungen
der Mubaraks wurden gefeiert, die Jugendlichen, die verhaftet und in
Militärtribunalen verurteilt wurden, aber vergessen", sagt die
Menschenrechtsaktivistin Aida Seif al-Dawla.
Die Armeeführung reagierte auf derlei Kritik mit der Verhaftung Mubaraks
und der Auflösung der NDP. Mit diesen Maßnahmen will sie ihr Ansehen als
Retter der Revolution zurückgewinnen. Tatsächlich hat sich das Verhältnis
zu den Demonstranten vom Tahrirplatz damit wieder entspannt. Das erste Mal
seit der Revolution gab es nach dem Freitagsgebet in der vorigen Woche auf
dem Tahrirplatz keine Großdemonstration. Die Straße als politisches
Korrektiv macht Pause und wartet gespannt darauf, wie sich die Untersuchung
gegen Mubarak entwickelt.
"Was gerade in Ägypten geschieht, geht weit über die Vorstellungskraft der
Drehbuchschreiber hinaus. Mubarak ist verhaftet und wird verhört. Es gibt
keine Rechtfertigung mehr für Verschwörungstheorien, die besagen, dass die
Armee Mubarak und seine Familie schützt", schreibt die staatliche
Tageszeitung Gumhuriya. Aber auch die unabhängige Tageszeitung al-Masry
al-Youm spricht davon, dass es keine Alternative zur Armee gebe. Sie allein
sei der Garant einer demokratischen Transformation.
## Verhandlungen zwischen Militär und Demonstranten
Besonders der Blick aufs benachbarte Libyen führt den Ägyptern schnell die
Bedeutung ihrer Armee vor Augen. Dort gibt es keine vergleichbare
Institution, die das Land in einer Übergangszeit führen könnte. Ägyptens
politische Realität ist derzeit ein tägliches Aushandeln zwischen den
Tahrir-Demonstranten, die die moralische Oberhand haben, und der
Armeeführung, die das Land regiert.
Es gibt aber auch vorsichtige Stimmen wie den prominenten Politologen
Hassan Nafaa. Mubaraks Verhaftung sei zwar ein großer Fortschritt, bedeute
aber nicht, dass die Kräfte des Wechsels bereits gewonnen hätten, sagt er.
"Selbst Wahlen alleine werden kein wirklich demokratisches System schaffen.
Wenn wir scheitern, wird ein neuer Pharao auftauchen."
Die Skeptiker warnen vor zwei Szenarien. Dass es sich die Armee auf Dauer
an den Positionen der Macht einrichten könnte oder dass die Islamisten als
am besten organisierte Gruppierung das Parlament übernehmen könnten. In
einem Kommentar in al-Masry al-Youm werden gar beide Szenarien verbunden:
"Aufgrund der hastigen Wahlen könnte das Parlament von Islamisten bestimmt
werden. Als Konsequenz könnten die anderen politischen Lager von der Armee
verlangen, länger an der Macht zu bleiben. Dann hätten wir ein algerisches
Szenario."
Aber die Islamisten selbst sind alles anderes als einig, wie es weitergehen
soll. Mahmoud Ezzat, der zweite Mann der Muslimbruderschaft, sorgte am
Wochenende für Furore, als er erklärte, dass seine Gruppierung in Ägypten
einen islamischen Staat errichten und langfristig Scharia-Strafen einführen
wolle. Danach geriet er nicht nur bei den offensiv auftretenden
Säkularisten, sondern auch aus den eigenen Reihen in die Kritik.
## Muslimbrüder drohen auseinanderzubrechen
Vor allem die Jugend der Muslimbrüder, die die Revolution am Tahrirplatz
mitgetragen hatte, widerspricht energisch. "Diese Ideen vom Islamischen
Staat und den Scharia-Strafen sind weit entfernt von unserem neuen Denken.
Manche der älteren Muslimbrüder reden immer noch von Dingen, die wir längst
überwunden haben", meint der junge Muslimbruder Muhammad Nur. Auch einer
seiner anderen jungen Kollegen äußert sich skeptisch über Teile der
Führung. "Sie glauben, alle Islamisten müssten an einem Strang ziehen, aber
wir haben große Auseinandersetzungen mit den Salafisten und anderen
radikalen Islamisten", sagt Muhammad Abdel Fattah. So sind die Muslimbrüder
zwar die größte organisierte Gruppe in der politischen Landschaft Ägyptens,
aber sie drohen auseinanderzubrechen. Zumindest laufen sie Gefahr, dass
ihnen die eigene Jugend auf dem Tahrirplatz davonläuft und Bündnisse mit
den anderen säkularen Jugendgruppierungen schließt.
Mit all dem Unwägbaren, das vor den Ägyptern liegt, eint sie der Stolz auf
das bisher erreichte. Die Tageszeitung Nahdet Masr fasst dieses Gefühl
zusammen: "Die ägyptische Revolution ist einmalig", schreibt sie. Es sei
eine Revolution der Jugend, die das Regime mit Hilfe neuer
Medientechnologien ohne eine charismatische Führung gestürzt hätten, "und
jetzt wird der alte Präsident auch noch nach dem Gesetz ganz zivil zur
Rechenschaft gezogen". Es sei die einzige Revolution, in der deren Macher
nicht Präsidenten werden, aber "in der jeder zukünftige Führer sich seien
Legitimität vom Tahrirplatz abholen muss".
Im Tora-Gefängnis in Kairo sitzt inzwischen die gesamte ehemalige
Führungsriege, in tiefer Depression verfallen. Der ehemalige Parlamentschef
Fathi Sourour hat Herzattacken, der NDP-Obere Safwat Scharif vergreist und
hat zunehmende Gedächtnislücken. Die Söhne Mubarak sind zerstritten. Der
Gefängnisführung scheint es zu peinlich, den Herren ihre Handys abzunehmen.
Stattdessen hat man nun im entsprechenden Trakt einen Störsender eingebaut.
Eine elegante Lösung: Ohne Handyempfang in die Zellen, in denen die
Vergangenheit sitzt, kann draußen das Eis weiter vor sich hinschmelzen.
19 Apr 2011
## AUTOREN
Karim Gawhary
Karim El-Gawhary
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