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# taz.de -- Krawalle in London: Keine Ideen außer Chaos
> In den 80ern richteten sich die Krawalle gegen rassistische
> Polizeigewalt. Heute kennen weder Polizei noch Mob den Unterschied
> zwischen Politik und Niedertracht.
Bild: Politisches Bewusstsein lässt sich so leicht nicht klauen: Plünderung i…
Es ist nicht das erste Mal, dass es in England zu innerstädtischen Unruhen
kommt. Viele erinnern sich in diesen Tagen an die Randale, die 1981 begann
und sich bald von den westindischen Nachbarschaften in Brixton in London
auf Chapeltown in Leeds, Handsworth in Birmingham, Toxteth in Liverpool und
Moss Side in Manchester ausweitete.
Schon damals wurden die Krawalle als Reaktion auf die Polizeikontrollen
interpretiert, die von jungen Einwanderern als Schikane empfunden wurden.
Die Ära dieser Unruhen erreichte ihren blutigen Höhepunkt 1985 mit dem
Krawall in Broadwater Farm im Londoner Bezirk Tottenham - und der Ermordung
des Polizeibeamten Blakelock. Seit damals wurde viel getan, um die
Beziehungen zwischen der Polizei und den Einwanderergesellschaften
Großbritanniens zu verbessern.
Nun wurde Tottenham erneut zum Ausgangspunkt von Randale. Auslöser war der
4. August, als ein Polizist Mark Duggan, einen Mann westindischer Herkunft,
erschoss. Zunächst wurde behauptet, es habe einen Schusswechsel zwischen
Duggan und der Polizei gegeben, aber das wurde schnell zurückgenommen. Seit
dem Tod von Jean Charles de Menezes 2005 ist das Misstrauen gegenüber
Polizeiberichten über Schießereien besonders groß.
Zunächst hatte es geheißen, Menezes habe auf der Flucht eine Schranke
übersprungen, er sei trotz sommerlicher Temperaturen ungewöhnlich warm
angezogen gewesen, man habe unter seiner Kleidung ein Abhörgerät gesehen.
Die Bilder auf den Überwachungskameras zeigten aber, dass Menezes eine
Jeansjacke trug. Dass er an der Schranke ein Ticket benutzt hatte und dass
er sogar kurz stehen geblieben war, um eine kostenlose Zeitung mitzunehmen.
Am vergangenen Samstag demonstrierten Freunde und Verwandte von Mark Duggan
friedlich vor der Polizeistation in Tottenham. Dann begann das Chaos auf
den Straßen, die Gewalt und die Plünderungen, die sich seitdem von London
auf andere Städte des Landes ausgebreitet haben. Es ist verständlich, dass
die britischen Medien zunächst versuchten, die Unruhen mit Blick auf die
Vorkommnisse in den achtziger Jahren zu interpretieren. Doch Dienstagnacht
erreichten die Krawalle Gloucester, eine mittelgroße Handelsstadt nahe
Wales. Parallelen zu den Aufständen in den achtziger Jahren, die auf
rassistische Gewalt reagierten, oder Hinweise auf die Wut über Mark Duggans
Tod scheinen plötzlich unzureichend.
## Der enthauptete Polizist
Vielleicht lassen sich die Unruhen besser mit einem Vorfall in der
nordenglischen Stadt Leeds im Jahr 1995 vergleichen. Damals waren etwa 150
Jugendliche in Auseinandersetzungen mit der Polizei verwickelt, ein Pub
brannte nieder. Anlass des Gewaltausbruchs war der Versuch der Polizei,
härter gegen Drogendealer durchzugreifen - und ein unbegründeter Verdacht
der Jugendlichen, dass der Besitzer des Pubs früher Polizist gewesen sei.
Die Randale brach vor einer Häuserreihe aus, auf der ein grausiges Graffito
zu sehen war, das die Vorkommnisse in Broadwater Farm im Jahr 1985 mit den
Worten feierte: "PC Blakelock, chop chop chop" - dazu zeigte das Graffito
eine Axt (Polizist Blakelock war enthauptet worden).
Die Randalierer - ein kleiner, aber aussagekräftiger Teil einer überwiegend
weißen Gegend - waren offenbar dagegen, dass überhaupt für Recht und
Ordnung gesorgt wird. Ihrer Meinung nach hatte sich die Polizei zu Unrecht
auf ihr Territorium gewagt. Sie taten kund, dass die Polizei einfach eine
rivalisierende Gang sei, die ihren Grund und Boden betreten habe.
Im 18. und 19. Jahrhundert waren Unruhen in London alltäglich. Der riot
act, 1714 erlassen, musste nur verlesen werden, und schon erlaubte er den
Ordnungshütern, Aufstände brutal niederzuschlagen. Straftäter wussten, dass
Tod oder Deportation drohten, aber das konnte Mobs wie jenen nicht
aufhalten, der 1829 den Osten Londons in Atem hielt und Passanten, Händler
und Marktstände mit einer Brutalität ausraubte, die derjenigen der Polizei
in nichts nachstand. Historiker haben darauf hingewiesen, dass die Londoner
Mobs wenig Grund zur Mäßigung hatten: Sie wussten, wie hart die Strafen
ganz unabhängig von ihren Taten waren, sobald ein Aufstand ausgerufen war.
Nun ist Kritik an der Polizei laut geworden, die den Randalierern nicht mit
dem erforderlichen Nachdruck begegnet sei. Bei manchen Vorkommnissen wurde
beobachtet, dass die Polizei dabei zugeschaut hat, wie Jugendliche ein paar
Meter weiter Läden zerstört und geplündert haben. Sie gab sich offenbar
damit zufrieden, dass man die Jugendlichen später ohnehin mithilfe der
Fernsehbilder würde identifizieren und festnehmen können. Das hat die Wut
vieler Ladenbesitzer provoziert, die mit ansehen mussten, wie ihre
Existenzgrundlage zerstört wurde.
Im Gegensatz dazu ist, wenn auch nicht in Bezug auf die aktuellen
Ereignisse, erst am Wochenende ganz andere Kritik laut geworden. Der
bekannte britische Menschenrechtsanwalt Michael Mansfield sagte über die
Reaktion der Polizei auf einer politische Demonstration: "Es gibt in
England eine beschämende Tradition. Sondereinsatzkommandos schreiten hart
ein. Es geht nicht etwa darum, potenzielle Straftäter einzuschüchtern,
sondern jene, die sich gegen die Regierung stellen."
Diese Position hat viel mit der früheren Kritik an Polizeieinsätzen zu tun
wie der Einkesselung von Demonstranten für mehrere Stunden oder dem harten
Vorgehen gegen Protestler wie Charlie Gilmour. Der Stiefsohn des
Pink-Floyd-Gitarristen Dave Gilmour wurde zu sechzehn Monaten Haft
verurteilt. Gilmour war auf ein Denkmal für Kriegsgefallene geklettert und
hatte die Limousine von Prince Charles mit Farbe beworfen.
## Protest oder Kriminalität?
Die Polizei hat sich mit der Behauptung verteidigt, es sei gerade
angesichts lauter Kritik sehr schwer abzuschätzen, was angemessen sein
könne und was nicht. In der Zwischenzeit hat der empfundene Mangel an
Polizeischutz zwar noch nicht zur Bildung von Bürgerwehren geführt, aber
dazu, dass einige Communities begonnen haben, sich selbst zu schützen. Am
Montagnacht haben sich etwa türkische Ladenbesitzer im Osten Londons vor
ihren Läden postiert.
In der Nacht zum Mittwoch wurden in Birmingham drei Muslime, die ihre
Gegend bewachten, angeblich von Randalierern mit dem Auto überfahren. Das
Zögern und die Zurückhaltung der Polizei scheinen auch auf die anfängliche
Verwirrung darüber zurückzuführen sein, ob man es mit politischem Protest
zu tun hat oder mit simpler Kriminalität. Besorgniserregend ist, dass die
Polizei wahrscheinlich nicht einmal zwischen beidem unterscheiden kann.
Ein Twitter-Kommentar vom Samstag bringt auf den Punkt, was derzeit in
London passiert: "Die Jugend im Nahen Osten geht für Menschenrechte auf die
Straße. Die Jugend in London tut es für einen 42-Zoll-Plasmafernseher." Es
ist sehr schwer, die Randale als etwas zu verteidigen, das verwandt sein
könnte mit sozialen Protesten, die, ob friedlich oder nicht, Teil des
demokratischen politischen Prozesses sind. Am Montag zerstörte der Mob ein
CD-Presswerk der Firma Sony in London. Die Randalierer hatten in der Fabrik
Playstations vermutet. In den Hallen, die von den Gewalttätern angezündet
wurden, [1][lagerten fast alle unabhängigen Plattenfirmen Großbritanniens
Bestände.]
Am Donnerstag schienen junge Plünderer aus Manchester im Interview mit BBC
einfach nur glücklich über ihre Beute und kündigten an, gleich wieder
rauszugehen, bis man sie verhaften würde. Selbst im Falle einer Verhaftung
gehen sie nicht davon aus, dass man sie ernsthaft bestrafen wird. Einer der
Jugendlichen sagte, er habe keine Vorstrafen, würde sowieso nur von der
Polizei verwarnt werden oder höchstens von den Eltern die Leviten gelesen
bekommen.
Am erschreckendsten für die Bevölkerung ist nicht, dass Unruhestifter gegen
etwas protestieren, sondern dass sie entweder gegen nichts protestieren
oder gegen alles. Indem die Jugendlichen vor allem Geschäfte für
Sportkleidung und Unterhaltungselektronik zu ihrem Ziel erklärt haben und
aus Kiosken Schnaps und Zigaretten haben mitgehen lassen, demonstrieren sie
zu gleichen Teilen hohlen Materialismus wie profunde Fantasielosigkeit.
Anders als die jungen Leute, die jüngst gegen die Erhöhung der
Studiengebühren protestiert haben, sehen sie nicht die Möglichkeiten, die
ihnen versagt bleiben. Sie sehen gar keine Möglichkeiten außer Chaos.
Im vergangenen Jahrzehnt wurde in Großbritannien auf die Angst der Jugend
im Allgemeinen und der Unterklassenjugend im Besonderen aufmerksam gemacht.
Diese Angst wird nun zweifellos ausufern. Was die Jugend selbst angeht:
Sollte es wider Erwarten doch irgendeinen echten Missstand geben, der sich
in ihren Aktionen Luft macht, dann wird dieser gerechtfertigte Protest
sicher untergehen. Denn weniger noch als die Polizei sind die Jugendlichen
dazu imstande, zwischen legitimem Protest und blanker Niedertracht zu
unterscheiden.
Im Augenblick wird unser Parlament durch eine Petition dazu gedrängt, die
Todesstrafe wieder einzuführen. Deportation nach Australien ist keine
Option mehr. Daher wäre es keine große Überraschung, wenn in der britischen
Regenbogenpresse demnächst gefordert würde, dass man diese Jugendlichen
hängen sollte, wenn die Unruhen weitergehen.
Aus dem Englischen von Susanne Messmer.
11 Aug 2011
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## AUTOREN
Ross Holloway
## TAGS
Schwerpunkt Rassismus
Schwerpunkt Überwachung
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