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# taz.de -- Bilanz nach den Londoner Krawallen: "Ich hasse die Polizei"
> Wie sieht es in den Londoner Krawallbezirken heute aus? Und wo liegen die
> Ursachen? Polizisten, Soziologen und Politiker kommen zu höchst
> unterschiedlichen Antworten.
Bild: Plünderer tragen Kartons aus einem Elektroladen im Zentrum von Birmingha…
LONDON taz | Die Spuren sind noch deutlich zu sehen. Die oberen Stockwerke
des Hauses in der London Road Ecke Oakfield Road im Südlondoner Stadtteil
Croydon sind mit Planen verhüllt, das Erdgeschoss ist mit Holzbrettern
vernagelt. Auf einem Brett klebt ein Schild: "Wir kommen zurück". Wann das
sein wird, ist ungewiss. Das Pfandhaus bleibt vorerst geschlossen. Es ist
bei den Krawallen im August vollständig ausgebrannt. Das Anwaltsbüro von
Barnes, Harrild and Dyer ein paar Häuser weiter ist ebenfalls zugenagelt,
ein Schild weist darauf hin, dass die Anwälte "wegen der Krawalle
vorübergehend umgezogen" sind.
An der nächsten Ecke repariert Jonas in seiner "Heel Bar" Schuhe. Der
kleine Verschlag sieht aus, als ob er an das Eckhaus angeklebt worden sei.
Die Verkaufsfläche ist höchstens einen Quadratmeter groß; die Werkstatt
hinter dem Holztresen ist kaum größer. Jonas, ein älterer Herr mit grauem
Vollbart, trägt eine dicke Strickjacke und eine Wollmütze, denn sein Laden
ist unbeheizt.
"Jugendliche können die Straße nicht entlanggehen, ohne dass sie von der
Polizei angehalten werden", sagt er. "Die Beamten befehlen ihnen, die Mütze
abzunehmen, die Kapuze herunterzuziehen, die Taschen zu entleeren. Wenn die
Jungs zu viert sind, müssen sie sich trennen, weil sie nicht in einer
Gruppe herumlaufen dürfen, selbst wenn sie überhaupt nichts getan haben.
Irgendwann musste sich die aufgestaute Wut ja entladen."
Die Krawalle in Croydon waren die schlimmsten, die Großbritannien in den
vergangenen 30 Jahren erlebt hat. Schätzungen zufolge nahmen bis zu 15.000
Menschen daran teil. Ausgelöst wurden sie durch den Tod von Mark Duggan.
Der Schwarze war von der Polizei in einem Taxi erschossen worden. Die
Behauptung, dass er zuerst geschossen habe, musste die Polizei später
zurücknehmen. Die Regierung setzte 16.000 Polizisten in London ein, und die
brauchten fünf Tage, um für Ruhe zu sorgen.
Die Bilanz: fünf Tote, hunderte Verletzte, Sachschaden in Höhe von 500
Millionen Pfund, 4.000 Verhaftete, die in Schnellverfahren abgeurteilt
wurden.
## Wie konnte es dazu kommen?
Premierminister David Cameron und seine Regierung behaupteten, es habe sich
"schlicht und einfach um kriminelles Verhalten" gehandelt. Im Unterhaus
erklärte Cameron, dass Jugendbanden hinter den koordinierten Krawallen
steckten. Er heuerte Bill Bratton an, den früheren Polizeichef von New
York, um eine Strategie zu entwickeln. Der "Krieg gegen die Banden" war
zunächst die einzige Antwort der Regierung auf die Unruhen. Wer nach den
Ursachen forschte, wurde bezichtigt, die Krawalle zu entschuldigen.
Den Jugendlichen fehle ein anständiges Elternhaus, eine anständige
Erziehung und eine anständige Moral, sagte Cameron. Boulevardzeitungen
schrieben über "verwilderte Eltern, die zu betrunken und voller Drogen
waren, um sich darum zu scheren, ob ihre Kinder plünderten und
brandschatzten". Die Nation glaubte ihnen: Bei Umfragen gaben 86 Prozent
der Befragten den "schlechten Eltern" die Schuld an den Ereignissen.
Die von Vizepremier Nick Clegg von den Liberalen Demokraten eingesetzte
Untersuchungskommission kam Ende November zu einem differenzierteren
Ergebnis. Es gebe verschiedene Gründe für die Krawalle, heißt es in dem
Bericht. Sehr politisch seien diese nicht gewesen, die Plünderer hätten es
auf Luxuswaren abgesehen, um damit anzugeben. Die Polizei habe zu lange
gebraucht, um zu reagieren, so dass der Eindruck entstanden sei, man habe
die Straßen den Banden überlassen.
Zugleich empfahl die Kommission der Polizei aber, ihre Taktik zu
überdenken: "Wenn junge gesetzestreue Menschen wiederholt auf der Straße
gestoppt und durchsucht werden, besteht die Gefahr, dass ihr Verhältnis zur
Polizei darunter leidet."
Die Polizei antwortete mit ihrem eigenen Bericht. Man könne ihr nicht
einerseits vorwerfen, zu lasch auf die Krawalle reagiert zu haben, und
andererseits bemängeln, dass die Durchsuchungen von Jugendlichen
kontraproduktiv seien, sagte ein Polizeisprecher. Man werde weiterhin Leute
auf der Straße stoppen und durchsuchen, aber man werde sicherstellen, dass
dies "auf intelligente, professionelle, objektive und höfliche Art"
geschehe.
Weder die Regierungskommission noch die Polizei hatten mit irgendwelchen
Teilnehmern der Krawalle gesprochen, bevor die Berichte geschrieben wurden.
"Entweder war die Gewalt spontan und ungeplant oder es existierten
Spannungen bei Teilen der Bevölkerung, die durch unsere Gemeindearbeit
nicht identifiziert worden sind", heißt es etwas hilflos.
## Umwandlung vom Sozialstaat zum Überwachungsstaat
Ein wichtiger Grund für die Auseinandersetzungen, glaubt Professor Simon
Hallsworth vom Zentrum für Sozialforschung an der London Metropolitan
University, sei die Umwandlung von einem Wohlfahrtsstaat in einen
Sicherheitsstaat im Verlauf der letzten 30 Jahre gewesen. "Überall hängen
Überwachungskameras, die Sicherheitskräfte sind rigoroser geworden, wir
haben die höchste Gefangenenzahl in Europa. Und das alles vor den
Krawallen. Die Regierung strebt nicht mehr nach einer zusammenhängenden
Gesellschaft und nach Vollbeschäftigung. Das Bedürfnis nach einer billigen
und flexiblen Arbeiterschaft ist vorrangig."
Das Gefälle zwischen Arm und Reich wird immer größer. Das Einkommen der
untersten zehn Prozent ist seit dem vorigen Jahr um 0,1 Prozent gestiegen,
das der obersten zehn Prozent um 1,8 Prozent. Ein Direktor oder
Geschäftsführer einer großen Firma bekommt in Durchschnitt 112.000 Pfund im
Jahr, ein Kellner dagegen nur 5.600 Pfund.
Die Jugendlichen leben in einer Gesellschaft, in der man danach beurteilt
werde, wie man sich kleide und welches Mobiltelefon man besitze, sagt
Hallworth.
Zugleich seien sie aber vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen und haben keine
Mittel, sich die Sachen zu kaufen. Cameron mache den schwarzen
Bevölkerungsteil, die "verwilderten Unterklassen" und die Bandenkultur zu
Sündenböcken und schleiche sich dadurch aus der Verantwortung. Aber seine
Regierung habe Jugendzentren und die Programme gegen Jugendarbeitslosigkeit
gekürzt oder abgeschafft, sagt Hallworth. Junge Leute seien nicht nur
arbeitslos, sondern auch gesellschaftlich isoliert.
Hallworth warf den Medien vor, die Regierungsverlautbarungen nicht zu
hinterfragen. Lediglich der Guardian hat - gemeinsam mit der London School
of Economics - eigene Untersuchungen angestellt und vor zwei Wochen einen
detaillierten Untersuchungsbericht vorgelegt.
Das Team analysierte 2,5 Millionen Twitter-Nachrichten und sprach mit 270
Teilnehmern an den Krawallen zwischen 13 und 57 Jahren. Die Hälfte waren
Schüler und Studenten. Viele hatten aus Opportunismus bei den Plündereien
mitgemacht, weil sie sich die Waren ansonsten nicht leisten können.
Mit Rassenunruhen hatten die Krawalle nichts zu tun: 33 Prozent der
Randalierer waren weiß, 43 Prozent schwarz und 7 Prozent asiatisch. Eine
überwältigende Mehrheit gab an, dass Banden - die für die fünf Tage einen
Waffenstillstand geschlossen hatten - keine Rolle gespielt haben.
Stattdessen, so erklärten 85 Prozent, sei das Verhalten der Polizei
entscheidend gewesen. Drei von vier Teilnehmern an den Krawallen waren in
den zwölf Monaten zuvor von der Polizei auf der Straße angehalten und
durchsucht worden.
Ein 34-Jähriger sagte, er sei in einen Polizeitransporter geworfen worden,
als er zwölf war. Die Polizisten legten ihm Handschellen an, verprügelten,
traten und bespuckten ihn und beschimpften ihn als "Nigger". In späteren
Jahren habe die Polizei dreimal versucht, ihn mit gefälschten Beweisen
dranzukriegen, einmal schoben sie ihm ein Messer unter. "Wenn man das
Leuten in den vornehmen Vierteln erzählt, die noch nie mit der Polizei zu
tun hatten, glauben sie einem nicht: Die Polizei tue so etwas nicht. Glaub
mir, genau das ist passiert. Ich hasse die Polizei."
In Croydon hatten die Beamten lediglich das obere Ende der London Road
geschützt. Dort liegen die teuren Geschäfte und die Filialen der
Kaufhäuser. Der Unterschied zwischen den beiden Teilen der Straße wird
schon an der Filiale einer Hühnerbräterkette aus den Südstaaten der USA
deutlich. Auf dem unteren Ende der Straße ist sie recht schäbig, es ist
lediglich ein Take-away. "Die Filiale da drüben", sagt Jonas, "ist ein
richtiges Restaurant mit Tischen und Stühlen." "Drüben" - das ist hinter
der Tamworth Road, sie teilt die Straße in zwei ungleiche Hälften. Wer
"drüben" einkauft, lässt sich seine Schuhe nicht bei Jonas besohlen.
Plötzlich rennt ein schwarzer, recht rundlicher Jugendlicher aus dem
Kaufhaus House of Fraser, zu dem früher auch das Nobelkaufhaus Harrod's
gehörte. Zwei drahtige junge Männer, ganz in Schwarz gekleidet, laufen
hinter ihm her. Der Junge, er ist höchstens 15, schlägt ein paar Haken,
aber nach 150 Metern haben sie ihn gestellt. Er lässt sich bereitwillig
abführen. "Du kommst fünf Monate zu spät zum Plündern", sagt einer der
beiden Kaufhausdetektive zu ihm.
20 Dec 2011
## AUTOREN
Ralf Sotscheck
## TAGS
Polizei
Schwerpunkt Überwachung
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