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# taz.de -- Debatte guter Aufstand, schlechter Aufstand: Ein paar Tage sichtbar…
> Ein guter Aufstand hat ein Ziel und Ideale. Ein schlechter Aufstand hat
> Opfer und ist sinnlos. Der schlechte Aufstand ändert die Verhältnisse
> nicht, er zeigt wie sie sind.
Bild: Guter Aufstand oder schlechter Aufstand? Ausschreitungen nach einer Demon…
Mit Verwunderung wurde bemerkt, dass der Aufruf "Empört euch!" bei den
Bürgern in der ökonomischen und sozialen Mitte viel mehr Gehör fand als bei
den viel direkteren Verlierern von Neoliberalismus und Sozialabbau. Und nun
"explodiert" auch in Europa einmal das Ghetto.
Doch statt eines Aufstandes sehen wir in Großbritannien ein sonderbares
Durcheinander von Hooliganismus, Terror, Kriminalität, eine hedonistische
Masse wendet sich blitzrasch vom ersten Anlass der Empörung, dem Übergriff
der Polizei, ab und einer Destruktions- und Plünderorgie zu. Diese
"Revolte", so scheint es, will nichts ändern, provoziert mit dumpfer Gewalt
eine nicht weniger dumpfe Gegengewalt. Sie ist ein Schock, und sie ist, was
zu erwarten war.
## Guter Aufstand, böser Aufstand
Ein guter Aufstand hat ein Ziel und einen Diskurs. Ein schlechter Aufstand
bricht aus oder entzündet sich. Ein guter Aufstand benennt den Gegner und
sucht nach Allianzen. Ein schlechter Aufstand kommt übers "Wir zeigen es
denen" nicht hinaus. Ein guter Aufstand formt in seinem Protagonisten
Selbstbewusstsein, ein schlechter Aufstand erzeugt Rausch und Katzenjammer.
Ein guter Aufstand hat Adressaten, ein schlechter Aufstand hat Opfer. In
einem guten Aufstand geht es um Ideen und um Ideale, in einem schlechten
Aufstand geht es um Randale, Flachbildfernseher und Schnaps. So einfach ist
das?
Da ist der heroische, solidarische und kluge Aufstand der mittelständischen
Jugend in der Arabischen Welt und in Israel. Und da ist der feige,
materialistische und dumpfe Aufstand der Verwahrlosten. Da ist der gerechte
Kampf einer Jugend, der man die Zukunft verweigern will, und da ist die
sinnlose Brutalität von Kids, die nichts zu verlieren und nichts zu
gewinnen haben als den schnellen Kick. Gewiss, so viel werden noch die
empörtesten Kommentatoren zugeben müssen: Die tieferen Ursachen für die
"guten" wie für die "schlimmen" Aufstände (und wenn die Grenzen einmal
nicht mehr so eindeutig sind, wissen wir, wer die Definitionsmacht hat, sie
zu ziehen) sind miteinander verwoben.
Wie die alten Diktaturen, so übertreibt es auch der neue Kapitalismus bei
der Erzeugung von "überflüssigen Menschen", Menschen, die keine Zukunft
aber sehr viel Energie haben. Und so, wie der bürgerliche Aufstand vor
allem seine Bürgerlichkeit ausdrückt, drückt der Unterschicht-Riot seine
Deplatziertheit aus. Dass man den eigenen Lebensort zerstört, ist nur
konsequent, denn so wenig man Zukunft hat, so wenig hat man hier "Heimat".
Die moralische Empörung des bürgerlichen Aufstandes und die Energie der
sozialen Revolte sind erst gemeinsam wirklich gefährlich. Doch so weit
entfernt voneinander wie derzeit waren sie wohl noch nie. Nicht zuletzt,
weil sich ein Bild zu festigen beginnt: Die Unterschicht des
Neoliberalismus ist monströs, und sie hat offenbar kaum ein anderes
"Klassenbewusstsein" als den Genuss dieser Monstrosität. Für den
konservativen europäischen Mainstream ist die neue Unterschicht
unerträglich, weil es sich für sie nur um ein "Anspruchsdenken" ohne
"Leistungsbereitschaft" handelt.
## Monströse Unterschicht
Das vielleicht Neue an der Unterschicht im Neoliberalismus ist eine ganze
eigene Konsumkultur: Fernsehprogramme von erlesen schlechtem Geschmack,
Überfluss von Nippes aus dem 1-Euro-Laden, Produktlinien der
Ghettotextilien, das obligatorische Kapuzen-Outfit der Kids, die nur
respektiert werden, wenn sie "böse" sind, und das rülpsende
Massenentertainment der Eltern, das Herumhängen, spezifische Schnapssorten,
eine eigene Sprechweise findet seine mediale Reflexion, sogar so etwas wie
einen Unterschicht-Tourismus gibt es.
Wenn man alle Kulturwaren für die neue Unterschicht zusammennimmt, erkennt
man eine doppelte Absicht: ein ökonomisches Segment, das dem Staat hilft,
an Sozialleistungen zu sparen (diese neue Unterschicht lebt nicht im
Mangel, sondern in einem giftigen Überfluss) und das den entsprechenden
Konzernen enormen Profit abwirft einerseits, und die Erzeugung eben jener
Dumpfheit und Blindheit, die man dann als Argument gegen das Verlangen
einsetzt, aus diesem Ghetto herauszukommen.
Ist es nicht unerträglich, jemanden nicht aus Hunger, sondern wegen ein
paar Markenartikeln aus der Fernsehwerbung rauben, plündern und sogar töten
zu sehen, der vielleicht gerade eine Arbeit ausgeschlagen hat, weil er für
die paar Kröten keinen Finger krumm machen will? Der Unterschichtler
scheint sich dem Ethos des Kapitalismus so radikal zu verweigern wie er
sich seinen Versprechungen und Illusionen unterwirft. Ist aber seine
Rücksichtslosigkeit beim Haben-Wollen vom Kuchenstück nicht die direkte
Spiegelung der Rücksichtslosigkeit des Bankers?
## Bürgerkrieg gegen Plünderer
Aber noch unerträglicher als für das konservative Bürgertum ist die neue
Unterschicht für die kritisch-dissidenten Teile des Bürgertums, die
"sozialen Bewegungen" allzumal. So sind die allgemeine Lähmung und die
eruptiven Riots der Unterschicht so wenig anschlussfähig wie diese
Unterschichtkultur. Die Unterschicht im Neoliberalismus ist, bevor man sie
als Opfer sieht, in ihrer medialen und öffentlichen Präsenz vor allem
Karikatur des Systems. Im schlechten Aufstand plündern die Kids die Läden
mit den Markenklamotten, denen der gute Aufstand den moralisch-ästhetischen
Kampf angesagt hat.
Nicht minder vorhersehbar sind die Reaktionen in der Mitte. Dem Vater wird
die Wohnung gekündigt, weil sein Sohn sich am Riot beteiligt hat. In der
moralischen Empörung der Mainstream-Gesellschaft erkennt der Staat die
Chance, schon wieder ein paar Elemente des Rechtsstaates über Bord zu
werfen. Schon kursieren in England Internetpetitionen, in denen
Randalierern das Recht auf Sozialhilfe abgesprochen wird, und dem Staat
wirft man allenfalls vor, zu wenig Polizisten zu bezahlen. Kurzum: Es wird
so etwas wie ein "Bürgerkrieg gegen den Terror" ausgerufen, und wie im so
grandios gescheiterten Krieg gegen den Terror ist auch darin nur eines
sicher: Die Produktion neuer Terroristen.
Hätten die "Randalierer" ein ähnliches Ziel wie die Terroristen, die wir
als kalte Täter kennen, so hätten sie auch dieses erreicht: das
Sichtbarmachen des Hasses in der Gesellschaft, das Sichtbarmachen des
Unterschiedes. Die Stärkung der "Zellen" bzw. der Gangs. Es ist ein
zweifellos terroristischer Selbstgenuss: Der Erfolg der Randale, neben ein
paar am Ende wohl eher bescheidenen Beutestücken, ist das erhebende Gefühl,
für ein paar Nächte Angst und Schrecken verbreitet zu haben, für einmal
sichtbar geworden zu sein, und womöglich bleibt man es im Bürgerkrieg gegen
den Unterschichtterror sogar für eine Weile.
Der schlechte Aufstand ändert die Verhältnisse nicht; er zeigt, wie sie
sind. Wer will das schon sehen?
17 Aug 2011
## AUTOREN
Georg Seesslen
## TAGS
Schwerpunkt Olympische Spiele 2024
Schwerpunkt Meta
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