# taz.de -- Britische Autorin über August-Krawalle: "Die Jugendlichen haben ke… | |
> Nach den Krawallen wird sich die Spaltung britischer Städte noch | |
> verstärken, so die Autorin Anna Minton. Den Ausbruch der Gewalt hält sie | |
> auch für ein spätes Resultat der Politik von New Labour. | |
Bild: "Die Krawalle haben ein Patchwork von örtlich begrenztem Chaos produzier… | |
Ist die Angst in den englischen Städten nach den Krawallen gestiegen? | |
Ich denke nicht, dass die Angst noch größer geworden ist als sie es schon | |
war. Innerhalb weniger Tage kehrte ja wieder Ruhe ein. Doch für einen Tag | |
herrschte eine ungewöhnliche Atmosphäre und das Gefühl, als ob die | |
Regierung fast die Kontrolle verloren hätte. | |
Die jüngsten Skandale und Krisen in Großbritannien sind alle mit einer | |
geradezu alarmierenden Fähigkeit der Bürger einhergegangen, sehr schnell | |
wieder zur Alltagsroutine zurückzukehren. So, als ob nichts geschehen wäre. | |
Genauso verhielt es sich auch bei der Spesen- und der Abhöraffäre. Was auch | |
den unter den Machern der öffentlichen Meinung weitverbreiteten Widerwillen | |
spiegelt, grundsätzliche Themen anzusprechen. | |
In ihrem Buch erwähnen sie die rapide Zunahme so genannter Gated | |
Communities in ganz Großbritannien. Obwohl Umfragen nicht belegen können, | |
dass diese unter der Bevölkerung Popularität genießen. Könnte sich das nun | |
verändern? | |
Die Geschehnisse werden den Hang zu Exklusion, Segregation und Sicherheit | |
weiter fördern. Was sehr beunruhigend ist, da Sicherheit noch mehr Gewalt | |
erzeugt. Entsprechend sind die USA trotz der Anwendung der Todesstrafe | |
eines der Länder mit der weltweit höchsten Mordrate. | |
Hat nicht die Tatsache, dass die Bilder der überall im Straßenraum | |
installierten Videokameras sofort für die Strafverfolgung verwendet wurden, | |
eine abschreckende Wirkung, die weitere Tage der Unruhe verhindern konnte? | |
Ja, Bilder von denjenigen, die sich an den Krawallen beteiligten, wurden | |
weit verbreitet und, so hieß es, dazu verwendet, diese zu überführen. Doch | |
alle Belege zeigen: Weder reduziert Videoüberwachung Kriminalität noch | |
hilft sie der Polizei bei der Jagd nach Kriminellen. | |
Im gegenwärtigen Klima wird die Rhetorik, dass die Videoüberwachung dazu | |
gedient hat, Plünderer vors Gericht zu bringen, das öffentliche Interesse | |
an ihr stärken, was ärgerlich ist, da wir in Großbritannien schon so viel | |
davon haben. Doch oft bestätigt hier die Forschung die Rhetorik nicht, | |
Deshalb wäre es interessant zu wissen, wie viele Verurteilungen tatsächlich | |
auf dem Material der Videokameras gründen. | |
In London war nicht das Stadtzentrum Ziel der jugendlichen Randalierer und | |
Plünderer, sondern es waren die Einkaufsstraßen der weniger wohlhabenden | |
Viertel wie Croydon, Hackney und Woolwich. Wie erklären Sie sich dieses | |
räumliche Muster? | |
London wird oft als Stadt der Dörfer bezeichnet, und die Krawalle haben ein | |
Patchwork von örtlich begrenztem Chaos produziert. Heutzutage ähneln sich | |
die größeren Einkaufsstraßen ziemlich, da sie alle im Griff der selben | |
Einzelhandelsketten sind. Ein Grund, weshalb die Randalierer, die auf | |
Plünderungen aus waren, sich gar nicht genötigt fühlten, längere Fahrtwege | |
zurücklegen zu müssen. | |
Ein weiterer Faktor ist, dass viele Menschen aus verarmten Stadtvierteln | |
gar nicht weit herumkommen. Das wurde auch bei den Krawallen deutlich. Und | |
es ist auch gut möglich, dass die Randalierer genau an den Orten, die ihnen | |
vertraut sind, Grenzen überschreiten und sich so aufführen wollten, wie sie | |
es eben taten. Das war schlechtes Benehmen im großen Maßstab, vermischt mit | |
jugendlicher Erregung. | |
Ein schlechtes Benehmen, das sich aber auch gegen kleine, unabhängig | |
geführte Läden richtete. | |
Ja, das war schon erschütternd. Insbesondere Gangmitglieder legen an ihren | |
Wohnorten ein sehr territorial orientiertes Verhalten an den Tag. Und sie | |
entwickeln ein starkes Zugehörigkeitsgefühl zum Quartier – das sich in | |
Feindseligkeit gegenüber anderen Jugendlichen übersetzen lässt, die in ihr | |
Revier eindringen. Daher ist es überraschend, dass sie die Einkaufsstraßen | |
ihrer Gegenden plünderten. Allerdings erstreckt sich diese Ortsbindung | |
nicht auf die lokalen Filialen der Sportbekleidungs- und Elektromärkte. | |
Ist jedoch erstmal der Funken des Chaos übergesprungen, dann scheinen | |
willkürliche Gewalt und Plünderungen zu demonstrieren, wie schnell solche | |
Zugehörigkeitsgefühle der Zerstörung Platz machen können. Ich denke, das | |
ist auch ein klares Anzeichen dafür, wie weit diese Jugendlichen schon von | |
ihren eigenen Nachbarschaften entfremdet sind. | |
Wäre es zu kurz gegriffen, den Ausbruch der Unruhen auch in Verbindung mit | |
der andauernden Wohnungskrise in Großbritannien zu bringen, wo viele | |
einkommensschwache Familie in überbelegten Unterkünften leben? Deshalb | |
haben Jugendliche nur auf der Straße Raum für sich selbst. | |
Jugendliche in benachteiligten Vierteln haben keine Orte die sie aufsuchen | |
können, und sie haben sehr wenig zu tun. Sie kommen in keine Kneipe rein, | |
Jugendclubs sind dünngesät, und diejenigen, die existieren, sind ständig | |
geschlossen. Ihnen gehört nichts, aber für ein oder zwei Nächte hatten sie | |
das Gefühl, die Straße gehöre ihnen. Die Wohnungsüberbelegung könnte einige | |
von ihnen betreffen, aber das ist nicht der Hauptgrund, sondern, dass sie | |
nichts zu tun haben. | |
In ihrem Buch beziehen Sie sich auf den US-Stadtplaner und Autor Kevin | |
Lynch, der behauptete, dass offene Räume an den Rändern des städtischen | |
Lebens so etwas wie eine Ventilfunktion besitzen, da sie Jugendlichen | |
erlauben, etwas zu riskieren und ein Gefühl der Beherrschung zu spüren. | |
Gibt es nicht einen Mangel an solchen Gebieten in den britischen Städten? | |
Der Mangel an Freiräumen ist sicherlich Teil des Problems. Aber junge | |
Menschen brauchen auch Aktivitäten und Mentoren. Gegenwärtig wird viel über | |
das "Vermächtnis" von Olympia 2012 in London diskutiert und insbesondere | |
darüber, wie, als ein Resultat der Spiele, junge Menschen dazu veranlasst | |
werden könnten, sich sportlich zu betätigen. | |
Doch das reale olympische "Vermächtnis" ist auf Immobilienentwicklung | |
konzentriert statt über Jugendclubs massiv Sport zu fördern – was wirklich | |
etwas bewirken könnte. Aber das ist so weit entfernt von der Jugendpolitik | |
dieses Landes, die sich unter den vorangegangenen Regierungen auf | |
Bestrafung und Vollstreckung der Agenda gegen antisoziales Verhalten | |
fokussierte und unter der jetzigen Regierung einfach nahezu alle | |
Jugendeinrichtungen kürzt. | |
Also tragen auch die Labour-Regierungen eine Mitverantwortung für die | |
Krawalle? Sie kritisieren, dass deren "Respect"-Agenda eine prominente | |
Rolle bei der Stigmatisierung und Kriminalisierung von Jugendlichen aus | |
ärmeren Stadtvierteln gespielt hat. Sind die Ausschreitungen so etwas wie | |
die Rache dafür? | |
Absolut. So viele der von mir interviewten jungen Leute haben geäußert, | |
dass sie die Polizei wie Dreck behandelt und ihnen keinerlei Respekt | |
entgegenbringt. Die Randale war ein Erguss der Wut darüber. Alle mir | |
bekannten Jugendleiter haben gesagt, dass sie schon seit einigen Jahren | |
damit gerechnet hätten, dass so etwas passiert. | |
Was verstand New Labour unter dem Begriff "Respect"? | |
Es handelt sich um einen dieser Orwellschen Begriffe, deren ursprüngliche | |
Bedeutung sich am Ende in ihr Gegenteil verkehrt. Ich denke, beabsichtigt | |
war, dass Jugendliche gegenüber den Älteren mehr Respekt zeigen und ein | |
besseres Verhalten an den Tag legen sollten. Doch praktisch kam es | |
Jugendlichen so vor, als ob mit der Agenda ein absoluter Mangel an Respekt | |
ihnen gegenüber verbunden war. In Gesprächen bezeichneten sie diese oft als | |
"Dis-Respect"-Politik. | |
Welche Maßnahmen beinhaltete die "Respect"-Agenda? | |
Letztlich war sie identisch mit dem Schwerpunkt, den die Regierung von Tony | |
Blair auf den Kampf gegen unsoziales Verhalten setzte. Juristisch begab man | |
sich auf schwammiges Terrain, da die Agenda nicht auf tatsächlich | |
kriminelles Verhalten abzielte, sondern auf solches, das "Belästigung, | |
Beängstigung und Bedrängnis" verursacht – also geringfügigere Formen von | |
Regellosigkeit. Und obwohl unsoziales Verhalten nicht gesetzwidrig war, | |
erfüllte, wer sich Anordnungen gegen unsoziales Verhalten widersetzte, den | |
Tatbestand einer strafbaren Handlung und konnte dafür ins Gefängnis kommen. | |
Eine Zunahme von polizeilichen Kontrollen und Durchsuchungen, das so | |
genannte Stop and Search, und Platzverweise, um Ansammlungen junger Leute | |
auseinanderzutreiben, gehörten ebenfalls zu dem Maßnahmenpaket. Inspiriert | |
wurde es durch die "Null-Toleranz"-Politik nach US-amerikanischem Muster. | |
Diese wiederum fußte auf der "Broken-Windows"-Theorie, wonach schon | |
kleinste Störungen wie etwa eingeworfene Fensterscheiben in einer Gegend | |
eine Spirale des Niedergangs und der Gewalt in Gang setzen könnten. | |
Labour unter Blair glaubte, dass der rapide Anstieg der Kriminalitätsfurcht | |
in Großbritannien genau diesem Typus der geringfügigen Regellosigkeit | |
geschuldet war, und die "Respect"-Agenda wurde geschaffen, um diese Furcht | |
anzugehen. Blairs Nachfolger Gordon Brown und auch die jetzige | |
konservativ-liberale Koalition haben viele der Maßnahmen wieder | |
abgeschafft. Aber ausgerechnet "Stop and Search", das die Jugendlichen | |
besonders verärgert, wird weiter ausgiebig angewendet. Der Hass auf die | |
Polizei, dadurch zweifellos befeuert, ist definitiv einer der | |
Schlüsselfaktoren hinter den Krawallen. | |
Kürzlich verwarf Tony Blair Premier Camerons Behauptung eines generellen | |
"moralischen Verfalls". Stattdessen machte er eine "Gruppe entfremdeter, | |
desillusionierter Jugendlicher, die sich außerhalb des sozialen Mainstreams | |
befinden" verantwortlich, die in jeder Industrienation zu finden sei. Das | |
klang, als würde er ein "böses Anderes" konstruieren, das eine | |
Spezialbehandlung benötige. | |
Interessant, dass man in Deutschland darauf hinweist. Kein einziger | |
britischer Kommentator teilt diese Auffassung. Ich fand Blairs Äußerungen | |
abstoßend, dabei doch erhellend. Gott sei Dank sind Blair und die | |
"Respect"-Agenda Geschichte. | |
New Labour war autoritär und häufig antidemokratisch. Und in diesem | |
speziellen Fall, in dem Blair etwas konstruierte, was geradezu auf eine | |
neuen Ethnizität hinauslief, war die Entwicklung meiner Meinung nach | |
wirklich sehr beunruhigend und rief die schlimmsten historischen Ereignisse | |
in Erinnerung. | |
Aber setzen die Konservativen trotz ihrer inklusiver klingenden Sprache | |
nicht doch die New Labour-Politik fort: mit Schnellgerichten, die harte | |
Strafen gegen Plünderer fällen und mit dem Vorhaben, Gerichtsurteile per TV | |
zu übertragen? | |
All das steht ziemlich im Einklang mit dem Vorgehen New Labours gegen | |
unsoziales Verhalten. Ich hoffe, das war nur eine reflexhafte Reaktion, | |
eine panische Antwort von Seiten der Regierung. Und dass wir zukünftig ein | |
maßvolleres Handeln sehen werden, beruhend auf gründliche Analysen dessen, | |
was geschehen ist. Aber, meine Zuversicht ist dahingehend nicht besonders | |
groß. | |
In Ihrem Buch stellen sie den urbanen Verhältnissen in Großbritannien einen | |
progressiveren, kontinentaleuropäischen Umgang mit öffentlichen Räumen und | |
den Aspekten von Sicherheit und Kriminalitätsvorbeugung entgegen. Haben Sie | |
da nicht ein zu rosiges Bild gezeichnet, in dem Sie zum Beispiel das | |
Problem der französischen Banlieus komplett ausblenden? | |
Eine berechtigte Kritik. Das Buch hätte sich gar nicht mit all den sozialen | |
Problemen, die in Europa virulent sind, befassen können. Aber eine | |
Erwähnung der Banlieus wäre sicherlich gut gewesen. Worauf ich hinzuweisen | |
versuchte, war, dass die Städte auf dem Kontinent oft spezifische Schritte | |
unternommen haben, mit Hilfe des Planungssystems und Gesetzen, um | |
sicherzustellen, dass ihre Innenstädte lebendige, aufregende Orte bleiben. | |
Im Gegensatz zu Großbritannien, das die planerische Gesetzgebung in vielen | |
Bereichen demontiert und den großen Handelskonzernen erlaubt hat, die | |
Städte zu übernehmen. | |
Erst am Dienstag ist im Osten Londons die größte Shopping Mall Europas | |
eröffnet worden – nicht weit entfernt von den Schauplätzen der Krawalle. | |
Ein zukünftiges Ziel für Plünderungen? | |
Zu behaupten, dass diese neue Shopping Mall ein potenzielles Ziel für | |
Plünderer sei, finde ich eine Vereinfachung. Relevanter ist, dass sie ein | |
Juwel in der Krone eines privatisierten, hoch gesicherten | |
Entwicklungsmodells darstellt, bei dem Konsum über alles geht. Das Ziel | |
heisst, den maximalen Profit aus einem Ort zu ziehen, anstatt sich um die | |
Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung zu sorgen. | |
Das ist die Architektur eines extremen Kapitalismus, der eine noch stärker | |
gespaltene Stadt erschafft. Was die Medienberichterstattung nämlich | |
konsequent ausblendet: Gleich gegenüber der glitzernden Shopping Mall | |
befindet sich ein heruntergekommenes Einkaufszentrum aus den 70er Jahren – | |
die einzige Versorgungsmöglichkeit, die sich die Bewohner der Gegend | |
überhaupt leisten können. | |
14 Sep 2011 | |
## AUTOREN | |
Oliver Pohlisch | |
Oliver Pohlisch | |
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