# taz.de -- Rafik Schami zur Situation in Syrien: "Der Großmufti ist ein Oppor… | |
> Der syrische Schriftsteller Rafik Schami über das Morden in seinem Land | |
> und die Chancen der Opposition. Eine Flugverbotszone wie in Libyen lehnt | |
> er entschieden ab. | |
Bild: Rafik Schami lehnt eine Flugverbotszone wie in Lybien entschieden ab. | |
taz: Herr Schami, die UNO spricht mittlerweile von 3.500 Toten in Syrien | |
seit März dieses Jahres. Das Assad-Regime steht mit dem Rücken zur Wand, | |
wie lange kann es sich noch halten? | |
Rafik Schami: Die reale Zahl der Märtyrer ist größer, und was mir mehr | |
Sorge macht, ist die noch größere Zahl der verschleppten Frauen, Männer und | |
Kinder. Assad steht noch nicht mit dem Rücken zur Wand. Die russische, | |
chinesische und iranische Regierung stützen ihn weiterhin. Auch die | |
Hisbollah im Libanon verbindet ihre Existenz mit der des Regimes. Assad | |
besitzt die Waffen und die Aufständischen nur ihren ungebrochenen Willen, | |
täglich für die Freiheit auf die Straße zu gehen. Aber die Wirtschaft ist | |
in Bedrängnis, ein Generalstreik folgt dem anderen. Das könnte das Regime | |
tatsächlich zum Zusammenbrechen bringen. | |
Es gibt Berichte von desertierenden Einheiten, was hören Sie davon? | |
Täglich desertieren Soldaten und Offiziere, weil sie es nicht | |
fertigbringen, auf Kinder und Zivilisten zu schießen. Und bei Weigerung | |
werden sie auf der Stelle selbst erschossen. Manche richten sich nun | |
schlecht bewaffnet gegen die übermächtigen, hochbewaffneten | |
Spezialeinheiten. Das prangere ich in meinen arabischen Schriften an. Das | |
ist lebensgefährliche Dummheit, durch nichts begründet. Sie gibt dem Regime | |
den Vorwand für die Bombardierung der Städte und ermöglicht dem Herrscher | |
kleine billige Siege, deren Summe die Revolutionäre schwächt. Militärs | |
waren noch nie gute Politiker, geschweige denn Revolutionäre. Deshalb | |
empfehle ich den Soldaten, die Waffen niederzulegen und zu flüchten. Das | |
ist heldenhaft genug. | |
Man hat den Eindruck, dass der seit Monaten anhaltende Aufstand stärker in | |
den Provinzen als in den beiden größten Städten Aleppo und Damaskus | |
verankert ist. Woran liegt das? | |
Die Herrscher hatten die Provinzen vernachlässigt. Die Zentren der zwei | |
größten Metropolen von Aleppo und Damaskus sind aber noch fest in der Hand | |
der dort sehr präsenten Geheimdienste, von Schlägertrupps, die bis zu | |
100.000 Bewaffnete zählen. Assads Dienste und Banden agieren außerhalb des | |
Gesetzes, sie werden von niemandem zur Rechenschaft gezogen. In Damaskus | |
und Aleppo sitzen auch die Sippenvorsteher, die Nutznießer, die Anhänger | |
der Baath-Partei und die Großhändler, die in direkter Partnerschaft mit | |
Mitgliedern der Assad-Familie stehen. Sie wissen, dass sie alles verlieren | |
werden, wenn das Regime stürzt. Es gibt heldenhafte Versuche, mitten im | |
Zentrum von Damaskus zu demonstrieren. Das Makabre ist: Die Ersten, die mit | |
Stangen auf sie einschlugen, waren Händler, und erst dann kam der | |
Geheimdienst. | |
Offensichtlich müssen sich die Assad-Truppen aus Städten wie Homs immer | |
wieder zurückziehen. Hat Assad überhaupt noch die Kontrolle über das | |
gesamte Land? | |
Nein, die hat er nicht. YouTube-Aufnahmen zeigen seltsame | |
Massendemonstrationen in umzingelten Städten wie Homs oder Daraa. Seltsam, | |
weil ein Volk, das ängstlich vierzig Jahre lang vor einem dummen | |
Geheimdienstler zitterte, nun vor der realen Bedrohung durch Panzer nicht | |
zurückweicht. Das gab es noch nie. Und es hat noch nie einen Herrscher | |
gegeben, dessen Denkmäler und Bilder zerstört werden, während seine Armee | |
den Platz umzingelt. | |
Es gibt Forderungen syrischer Oppositioneller nach einer Flugverbotszone | |
für die Luftwaffe Assads. Was halten Sie davon? | |
Nichts, weil das eine militärische Intervention zur Folge hat, was die | |
größte Katastrophe bedeutet. Was nötig ist, ist ein sofortiger Schutz der | |
Zivilisten. Das ist etwas anders. Durch die UNO-Charta wäre die UNO | |
verpflichtet, mit Beobachtern und Blauhelmsoldaten die Zivilisten zu | |
schützen. Hier könnte dies als Kompromiss eine Chance haben, den Russen und | |
Chinesen nicht verhindern. Aber auch eine entschiedene Haltung des Westens | |
hilft den Zivilisten in Syrien. Das alles ist dringend notwendig. Was wir | |
aber stattdessen sehen und hören, ist, wie sich eine westliche Welt ihrer | |
eigenen Demokratie und Freiheit unwürdig macht. Diese Gleichgültigkeit und | |
wortreiche Verstummung, vorgeführt von Frau Clinton, versteht Assad am | |
besten, und er wird immer brutaler. Als der Westen entschieden hinter | |
Solidarnosc stand, wagte eine nukleare Supermacht namens Sowjetunion nicht, | |
die polnischen Werftarbeiter zu massakrieren. | |
Syrien spielte sich lange als "Schutzmacht" im Libanon auf. Nun lässt Assad | |
die Grenze zum Libanon verminen. An der Grenze im Norden sammelt sich auf | |
türkischer Seite die "Freie Syrische Armee", um den desertierten syrischen | |
Offizier Riad al-Asaad. Gibt es derzeit noch eine andere Perspektive als | |
den Bürgerkrieg? | |
Der Bürgerkrieg droht, aber es gibt zum Krieg immer Alternativen. | |
Wie könnten die aussehen? | |
Ziviler Ungehorsam, Generalstreik, Demonstrationen, Flugblätter, für | |
Sympathie im Ausland werben. Das Regime kann dies auf Dauer nicht | |
überstehen. | |
Die syrische Opposition hat einen Nationalen Rat als Sammelbewegung | |
gegründet. Was für Kräfte gehören ihm an, und wie groß ist seine Autorität | |
im In- und Ausland? | |
Das ist ein großer Schritt vorwärts. Der Rat bündelt die Aktionen, hat | |
vieles aufzuarbeiten und zu balancieren, weil er aus sehr unterschiedlichen | |
politischen Kräften besteht. Er ist gerade einen Monat alt. Aber die | |
Revolutionäre und Aktivisten im Inland haben ihn voll anerkannt. Im Ausland | |
beginnt er Respekt und Sympathie zu erreichen, nicht zuletzt durch seinen | |
angesehenen Vorsitzenden Burhan Ghalioun. Er ist ein Mann der Wissenschaft | |
und des Widerstands. Noch sind aber nicht alle Fraktionen und unabhängige | |
Persönlichkeiten vertreten. Durch Exil und Gefängnis aufgestaute Aversionen | |
müssen überwunden werden. Einige Weggefährten attackieren den Rat. Es wird | |
dauern, bis er tatsächlich die Führung der Revolution beanspruchen kann und | |
nicht bloß ihr Sprachrohr spielt. | |
Welche Pläne gibt es in der Opposition für einen Übergang und die Zeit nach | |
Assad? | |
Noch ist vieles verschwommen. Alle sind sich einig, das Regime zu stürzen. | |
Aber welcher Staat danach kommt, ist nur in groben Zügen bekannt: | |
Mehrparteien-Demokratie, Achtung der Menschenrechte und der Freiheit von | |
Presse, Justiz und Wissenschaft. Wir werden ein wenig Glück brauchen, um | |
beim Wiederaufbau nicht alte Rechnungen zu begleichen und um die alten | |
Ideologien zu bändigen. Revolution verstehen heißt für mich, selbst eine | |
Revolte gegen die alten Reste in uns zu führen. Mut haben zum Verzeihen, | |
Gerechtigkeit walten lassen ohne Rache. Aber auch ohne zu vergessen, was | |
diese Diktatur den Menschen angetan hat. | |
Droht ein Syrien ohne Assad nicht wie der Irak nach Saddam Hussein in | |
Religionskriegen zu versinken? Zögern vielleicht deswegen noch einige der | |
städtischen Mittelschichten, sich dem Aufstand anzuschließen? | |
Nein, Assad selbst zündelt an dieser konfessionellen Bombe. Die Syrer sind | |
ein uraltes zivilisiertes Volk, das aus vielen bunten Gemeinschaften | |
besteht. Natürlich ist ein Rückschlag immer möglich. Wir wissen das | |
spätestens seit der Französischen Revolution. Aber: Syrien ist nicht mit | |
dem Irak zu vergleichen. Weder historisch noch von der Zusammensetzung der | |
Bevölkerung. Auch der Prozess zum Sturz der Diktatur verläuft anders. Im | |
Irak übernahmen die Amerikaner die Aufgabe, den Diktator zu stürzen. In | |
Syrien kämpfen die Menschen seit acht Monaten auf der Straße und befreien | |
sich Meter für Meter. Das ist, wie ich zu sagen pflege, eine andere | |
Geschichte. | |
Großmufti Scheich Hassun gilt als ein Vertrauter Assads. In der | |
internationalen Presse warnte er, hinter dem Aufstand in Syrien stünden | |
"unerfreuliche Elemente", militante Islamisten aus Irak, Afghanistan, | |
Saudi-Arabien und Jemen seien nach Syrien eingesickert. Welche Rolle | |
spielen die Gotteskrieger bei den Protesten in Syrien? | |
Der Großmufti ist ein charakterloser Mann. Ein korrupter Opportunist. Er | |
ist es gewesen, der vor kurzem noch den Westen mit seinen "Schläfern" | |
gedroht hat, die er in Europa platziert habe. Er steht für die unheilige | |
Allianz der Kirche mit dem Herrscher. Gotteskrieger wie Hisbollah sind | |
Verbündete des Regimes und nicht der Demonstranten. Die Proteste sind | |
ungeheuer mutig und zumeist friedlich. Deshalb erlauben es Diktator Assad | |
und sein Zwergmufti internationale Beobachtern oder Journalisten nicht, das | |
Land zu betreten. | |
Das Assad-Regime hat vielfältige und schwere Verbrechen begangen. Welches | |
Land würde Assad und seine Entourage aufnehmen und ein sicheres Exil | |
gewähren? | |
Venezuela, solange Chavéz noch herrscht, oder Algerien, solange dort die | |
Revolution noch nicht ausgebrochen ist. Aber vielleicht auch der ach so | |
sozialistische Spanier Zapatero. Er beherbergt den Onkel von Assad, Rifaat, | |
einen Massenmörder, der über 30.000 Morde zu verantworten hat. Doch ob der | |
gesamte Assad-Clan ein sicheres Exilland fände, steht wohl eher in den | |
Sternen. Deshalb ist zu befürchten, dass sie wie Gaddafi alles zerstören, | |
bevor sie untergehen. | |
14 Nov 2011 | |
## AUTOREN | |
Andreas Fanizadeh | |
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