# taz.de -- Parlamentswahl in Spanien: Lernen, die Tortilla zu wenden | |
> "Wählt sie nicht!" lautete im Mai bei den Regionalwahlen in Spanien der | |
> Slogan der Empörten. Jetzt wollen viele den kleinen Parteien ihre Stimme | |
> geben. | |
Bild: Die Empörung ist geblieben: "Keine Privatisierung" forderten Demonstrant… | |
MADRID taz | Esperanza Encabo wohnt im Hotel. Es ist nicht irgendein Hotel, | |
und der Aufenthalt ist nicht ganz freiwillig. Das Haus liegt mitten im | |
Zentrum Madrids, nur wenige Meter von der Puerta del Sol entfernt, wo bei | |
den spanischen Kommunal- und Regionalwahlen im Mai Hunderte ihr Protestcamp | |
errichteten. | |
"Wir haben das leer stehende Gebäude nach der weltweiten Mobilisierung für | |
'Occupy' am 15. Oktober besetzt", erklärt Encabo. Sie wurde aus ihrer | |
Wohnung in einem kleinen Dorf 100 Kilometer westlich von Madrid geklagt. | |
Das ist kein Einzelfall. In den letzten fünf Jahren wurden in Spanien | |
500.000 Wohnungen zwangsgeräumt. Ganze Familien landeten auf der Straße. | |
Das "Befreite Hotel Madrid" bietet ihnen vorübergehend eine Bleibe. | |
Das Gebäude mit seinen fünf Stockwerken, Küchen, Restaurant und | |
Versammlungsräumen stand seit Jahren leer. Es gehört einer | |
Immobilienagentur, die sich mit Luxuswohnungen und teuren Gebäuden | |
verspekulierte und im Januar 2010 für zahlungsunfähig erklärt hat. Für die | |
Besetzer ist klar, dass solche Unternehmen "für die Politik | |
mitverantwortlich sind, die das Land in die schwierige wirtschaftliche Lage | |
gebracht hat". | |
Spanien boomte über ein Jahrzehnt dank der Immobilienspekulation. Dann | |
platzte die Blase. Fünf Millionen Menschen - über 20 Prozent - sind ohne | |
Arbeit, die Jugendarbeitslosigkeit ist doppelt so hoch. Das Hotel ist zum | |
neuen Symbol der Bewegung der Empörten geworden. | |
## Mit 75 eigentlich zu alt für Proteste | |
Esperanza Encabo sieht sich als Aktivistin der "Bewegung der Empörten" oder | |
des "15 M", wie sie sich nennen. Der Name bezieht sich auf den 15. Mai, als | |
mit einer Demonstration gegen Korruption, Jugendarbeitslosigkeit und das | |
ungerechte spanische Wahlsystem alles begann. | |
Dabei will Encabo gar nicht so recht in dieses Schema passen. Mit 75 Jahren | |
ist sie eigentlich viel zu alt für Proteste, die der Unzufriedenheit der | |
spanischen Jugend zugeschrieben werden. "Ohne die jungen Leute vom 15 M | |
stände ich auf der Straße", erklärt die Frau, die sich bis zur Rente mit | |
Gelegenheitsjobs in Spanien, Deutschland, Frankreich und Belgien | |
durchgeschlagen hat. | |
Gleich neben dem Hotel auf der Puerta del Sol findet Wahlkampf statt. Ob | |
die konservative Partido Popular (PP), die PSOE des noch regierenden | |
Sozialisten José Luis Rodríguez Zapatero oder die kleineren Parteien, alle | |
legen einen Zwischenstopp im Herzen der spanischen Hauptstadt ein. Sie | |
versprechen und versprechen. Encabo lässt das kalt. "Es ist Zeit, die | |
Tortilla zu wenden", nutzt die energische Alte ein spanisches Sprichwort. | |
Bisher habe sie immer die Sozialisten gewählt. Doch nach den ganzen | |
Sozialkürzungen wandte sich Encabo von der Partei des amtierenden Premiers | |
Zapatero und deren Spitzenkandidat Alfredo Pérez Rubalcaba ab. "Ich werde | |
dieses Mal einer kleinen Partei meine Stimme geben", erklärt Encabo. Sie | |
sympathisiert mit der neu entstandenen grünen Partei Equo. | |
## Plötzlich wird die Wahl zum Thema | |
Im Mai bei den Kommunal- und Regionalwahlen lautete der Slogan der | |
Empörten: "Wählt sie nicht!" Oder: "Sie vertreten uns nicht!" Folglich | |
stieg die Stimmenthaltung, es gab viele ungültige Stimmen, und die PP | |
gewann die Regional- und Kommunalwahlen haushoch. | |
Diese Diskussion wird in Encabos Hotel und auch auf den Versammlungen des | |
15 M geführt. "Wer nicht wählt, legitimiert damit das Zweiparteiensystem", | |
erklärt Fernando Rodríguez, warum die Wahl plötzlich zum Thema wird. Der | |
37-jährige Berufsschullehrer war von Anfang an im Protestcamp an der Puerta | |
del Sol dabei. | |
Im Internet macht ein Video von Anonymous die Runde und auch die Aktivisten | |
von "Echte Demokratie jetzt!" - der Plattform, die zum 15. Mai mobilisiert | |
hat - meldet sich bei Twitter und Facebook mit Aufrufen zu Wort, eine der | |
kleinen Parteien zu wählen. | |
Die Umfragen zeigen: Die postkommunistische Vereinigte Linke, die liberale | |
Partei UpyD und die neu entstandene grüne Equo dürfen sich Hoffnungen auf | |
Stimmen aus den Reihen derer machen, die dem bisherigen System den Rücken | |
kehren. Rodríguez, der nun bei den Lehrerprotesten gegen Stellenkürzungen | |
an den öffentlichen Schulen in Madrid aktiv ist, schwankt zwischen Equo und | |
der linksradikalen Formation "Anticapitalistas". "Vermutlich werde ich grün | |
wählen, denn sie haben reelle Chancen", sagt er. | |
"Die Menschen haben sich dank unserer Proteste wesentlich mehr mit den | |
aktuellen Problemen und möglichen Antworten darauf beschäftigt", ist sich | |
Fabio Gándara sicher. Die basisdemokratische Erfahrung der Empörten habe | |
andere soziale Protestbewegungen gegen den Sozialabbau und auch neu | |
entstandene, kleine Parteien beeinflusst. | |
Der 26-jährige arbeitslose Jurist ist einer der Gründer von "Echte | |
Demokratie jetzt!". Auch er will eine der kleineren Parteien wählen. | |
Welche, das gibt er nicht preis. "Vor allem die kleinen Parteien haben sich | |
unserer Forderungen nach mehr direkter Demokratie angenommen." | |
Trotz des bevorstehenden Sieges der Konservativen ist Gándara optimistisch. | |
"Wir werden am Wahlsonntag eine Überraschung erleben", sagt er. "Das | |
Parlament wird so viele Parteien aufnehmen wie nie zuvor." Für ihn ist das | |
der "Anfang vom Ende des Zweiparteiensystems". | |
17 Nov 2011 | |
## AUTOREN | |
Reiner Wandler | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Occupy-Bewegung | |
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