| # taz.de -- Fragwürdige Säuglingsnahrung: Nur "nach dem Vorbild" der Natur | |
| > Muttermilchersatznahrung ist nicht so gut, wie die Hersteller das in der | |
| > Werbung suggerieren. Zweifelhafte Gesundheitsversprechen rufen nun | |
| > Kinderärzte auf den Plan. | |
| Bild: Kritischer Säugling: Was da wohl in der Flasche ist? | |
| Wer heute Säuglingsmilch kaufen will, der sieht sich mit einer Fülle an | |
| Produkten konfrontiert. Auf den Verpackungen buhlen einerseits Aufschriften | |
| wie "Nach dem Vorbild Muttermilch" oder "mit Forschern entwickelt" um die | |
| Gunst der jungen Eltern. Zudem suggerieren kryptische Fachbezeichnungen wie | |
| "LCP" oder "Bifidus", dass in Sachen Babynahrung garantiert alles | |
| wissenschaftlich zugeht. | |
| Auch bei den Internetauftritten oder der Werbung für Print und TV verfolgt | |
| man diese Strategie – schließlich ist der Markt für Babynahrung hart | |
| umkämpft und sind die verunsicherten Eltern nur über eine glaubwürdige | |
| Vermarktung zu ködern. | |
| Diese Marketingstrategie ist nun jedoch ins Visier von Ärzte- und | |
| Hebammenverbänden geraten. Im [1][Deutschen Ärzteblatt kritisierten die | |
| Mediziner] kürzlich gemeinsam mit der [2][Nationalen Stillkommission am | |
| Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR)], dass die Vermarktung der | |
| Produkte gegen den [3][Kodex der Weltgesundheitsorganisation (WHO)] und | |
| gegen deutsches und europäisches Recht verstoße. Denn die Formulierungen | |
| auf Verpackungen, in Werbespots und auf Internetseiten suggerierten, dass | |
| die Ersatznahrung sehr nah an das Vorbild Muttermilch herankomme. | |
| So liest man etwa auf den Internetseiten der Firma Hipp, dass das neue | |
| Produkt "Combiotik pre" auf Grund der einzigartigen Kombination aus | |
| Probiotika und Präbiotika dem Vorbild Muttermilch noch einen Schritt näher | |
| gekommen sei. | |
| "Das verstößt gegen geltendes Recht", meint Berthold Koletzko, | |
| Ernährungsexperte der [4][Deutschen Gesellschaft für Kinder- und | |
| Jugendmedizin (DGKJ)]. Denn es ist laut Diätverordnung verboten, die | |
| Eigenschaften von Flaschennahrungen zu idealisieren und den Eindruck einer | |
| Gleichwertigkeit mit dem Stillen zu erwecken. | |
| ## Verfahren gegen Hipp | |
| Bei Hipp will man sich zu den Vorwürfen nicht äußern. Dafür hat der | |
| [5][Diätverband], in dem die Hersteller von Kindernahrung Nestlé (Alete), | |
| Danone (Milupa) und Hipp (Bebevita) organisiert sind, eine Stellungnahme | |
| veröffentlicht. Dort liest man etwa: "Die Formulierung 'nach dem Vorbild | |
| der Muttermilch' bezweckt bereits dem Grunde nach keine Suggestion der | |
| Gleichwertigkeit". | |
| Bei den zuständigen Behörden sieht man dies jedoch ganz anders: Zumindest | |
| das Landratsamt Pfaffenhofen (Bayern) hat wegen dieser Formulierung gegen | |
| die Firma Hipp kürzlich ein Ordnungswidrigkeitsverfahren eingeleitet. | |
| Auch sachlich sei die Werbung falsch und eine Verbrauchertäuschung, meint | |
| Koletzko. "Die Zusammensetzung der Produkte ist der Muttermilch keineswegs | |
| ähnlich." Probiotika sind spezielle Bakterienkulturen wie Laktobazillen, | |
| die vermutlich die menschliche Darmflora und damit etwa das Immunsystem | |
| beeinflussen. | |
| In der Muttermilch hat man eine große Vielzahl an unterschiedlichen | |
| Bakterienstämmen gefunden, während in Babynahrung nur ein oder zwei Stämme | |
| zur Anwendung kommen."Aber gerade die Vielfalt der bakteriellen Exposition | |
| dürfte für die Prägung des kindlichen Immunsystems wichtig sein", meint | |
| Koletzko. | |
| Zu den Prebiotika zählen Mehrfachzucker (Oligosaccharide) wie etwa das | |
| Inulin oder Ballaststoffe. Auch sie sollen helfen, das kindliche Darmmilieu | |
| günstig zu beeinflussen. Hier gilt das Gleiche: Eine große Vielfalt sehr | |
| komplexer Oligosaccharide kommt in der Muttermilch vor, mehr als 150 | |
| unterschiedliche hat man bislang gefunden. | |
| ## Nur simple Mehrfachzucker | |
| In Tütenmilch finden sich jedoch nur ein oder zwei vergleichsweise simple | |
| Mehrfachzucker. Probiotika und Prebiotika werden mittlerweile fast allen | |
| Säuglingsmilch-Produkten zugesetzt, weil sie vor Durchfallerkrankungen und | |
| Allergien schützen sollen. Eine aktuelle Stellungnahme der "European | |
| Society for Paediatric Gastroenterology, Hepatology and Nutrition" hält | |
| einen klinisch relevanten Vorteil von Pro- und Prebiotika für gesunde | |
| Kinder aber nicht für belegt. | |
| "Es gibt zwar Hinweise auf positive Wirkungen, aber welcher Bakterienstamm | |
| etwa in welcher Dosierung über welchen Zeitraum eingenommen werden sollte, | |
| ist unklar", sagt Christian Braegger vom Universitätsspital in Zürich und | |
| Erstautor der Studie. Weil die meisten Studien industriefinanziert seien, | |
| mahnen die europäischen Wissenschaftler unabhängige Studien an. | |
| Einige Hersteller setzen der Säuglingsnahrung mittlerweile auch | |
| langkettige, ungesättigte Fettsäuren (LCP) zu, weil diese auch in der | |
| Muttermilch vorliegen würden. LCP sind Omega-3-Fettsäuren, die laut dem | |
| Forschungsinstitut für Kinderernährung von vielen Experten als vorteilhaft | |
| für die Gehirnentwicklung und die Sehfähigkeit beim Säugling angesehen | |
| werden. Allerdings sind die Studienergebnisse zwar vielversprechend, aber | |
| ebenfalls nicht eindeutig. | |
| "Fest steht: Ohne die Industrieforschung hätten wir heute nicht so gute | |
| Muttermilchersatzprodukte. Aber wie diese seit einiger Zeit beworben | |
| werden, geht eindeutig zu weit", meint Hildegard Przyrembel, ehemaliges | |
| Mitglied der Nationalen Stillkommission. Die Werbung für | |
| Muttermilchersatznahrung ist so streng geregelt, weil Mütter in der | |
| sensiblen Phase nach der Geburt nicht dazu verleitet werden sollen, | |
| frühzeitig abzustillen. | |
| Neben Werbespots, die eine stillende Mutter zeigen, monierten die | |
| Kinderärzte um Berthold Koletzko auch, dass immer noch kostenlose Proben | |
| von Säuglingsnahrung an Ärzte und Hebammen verteilt werden, obwohl dies | |
| seit 30 Jahren untersagt ist. | |
| In einer Studie aus dem Jahr 2008 hatte der Wissenschaftler Ken Rosenberg | |
| vom Gesundheitsministerium in Oregon belegt, dass Mütter früher zur | |
| Babyflasche griffen, wenn sie in der Klinik solche Proben erhalten hatten. | |
| Als Skandal bezeichnet der Münchner Wissenschaftler Koletzko den aktuellen | |
| Trend in der Vermarktung von Babynahrung "weil die Hersteller dies wider | |
| besseres Wissen tun". | |
| Auch in Entwicklungsländern wird der WHO-Kodex teilweise ignoriert – mit | |
| verheerenden Folgen: Die Kinder sterben, weil das Wasser vor Ort, mit dem | |
| das Milchpulver angerührt wird, oft unhygienisch ist. Erst im Mai dieses | |
| Jahres hat die Unicef die Werbung für Muttermilchersatznahrung in vielen | |
| Entwicklungsländern als grob fahrlässig bezeichnet. Die weltweit agierenden | |
| Babynahrungshersteller wie Nestlé, Pfizer-Wyeth und Danone-Nutricia-Milupa | |
| seien damit mitschuldig am Tod von jährlich 1,5 Millionen Kindern. | |
| 25 Nov 2011 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikel.asp?src=suche&p=Stillkommis… | |
| [2] http://www.bfr.bund.de/de/nationale_stillkommission-2404.html | |
| [3] http://whqlibdoc.who.int/publications/9241541601.pdf | |
| [4] http://www.dgkj.de/ | |
| [5] http://www.diaetverband.de/ | |
| ## AUTOREN | |
| Kathrin Burger | |
| ## TAGS | |
| Kinder | |
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