# taz.de -- Vorlieben beim Essen: Die Vanillisierung des Geschmacks | |
> Wie Mütter, Väter und Industrie die Nahrungsvorlieben der Kleinen | |
> beeinflussen – und was genetisch bedingt und daher mit Gelassenheit zu | |
> sehen ist. | |
Bild: Damit Babys die Tütenmilch mögen, mischen Babynahrungshersteller auch V… | |
Nele mag einfach kein frisches Obst, von rohem Gemüse ganz zu schweigen. | |
Die Eineinhalbjährige verzieht den Mund bei allem, was im Entferntesten | |
sauer schmeckt. Ihr großer Bruder Luis hat in demselben Alter besonders | |
gern Mandarinen verspeist, saure Gurken geknabbert und entkernte Oliven in | |
sich hineingestopft. Warum es sogar unter Geschwistern solch frappierende | |
Unterschiede gibt, wie also die frühkindliche Geschmacksprägung | |
funktioniert und wie das mit dem späteren Ernährungsverhalten | |
zusammenhängt, verstehen Forscher in den letzten Jahren immer besser. | |
Die Vorliebe für Süßes ist den Allerkleinsten allerdings angeboren. Sie | |
währt manchmal bis ins Jugendalter. Man vermutet dahinter evolutionäre | |
Gründe: Schließlich gibt es nichts in der Natur, was süß und giftig | |
zugleich ist. Was süß schmeckt, etwa Muttermilch, ist demnach sicher und | |
energiereich - ideal also für den schnell wachsenden Säugling. | |
Auch bei den anderen Geschmacksrichtungen spielen die Erbanlagen mit. So | |
wird Bitteres wie Spinat oder Kohlgemüse von Kindern abgelehnt, weil | |
Bitterstoffe oft auch giftig sind. Sauergeschmack weist auf Verdorbenes | |
oder Unreifes hin. Salzige Lebensmittel mögen vor allem Kleinkinder. Der | |
Geschmack zeigt an, dass viele Mineralstoffe drinstecken. Umami, der | |
Geschmack von eiweißreichem Fleisch, wird auch meist positiv gewertet. | |
Allerdings gibt es, gerade was Bitteres anbelangt, große genetische | |
Unterschiede, die sich schon im frühesten Kindesalter bemerkbar machen. | |
Einige Menschen können bitter kaum schmecken und akzeptieren Kohlgemüse und | |
Spinat. Andere, die sogenannten Supertaster, tun das nicht. Ein Viertel der | |
Menschen hierzulande zählen zu den Supertastern, die auch oft stark | |
Gesalztes oder Gesüßtes nicht mögen und darum theoretisch dünner sein | |
müssten als Non-Taster. Diese Theorie hat sich bislang aber nicht | |
bestätigen lassen. | |
Zudem entwickelt sich die Ablehnung von Bitterem erst ab dem vierten Monat. | |
Sonst könnte sogenannte Hydrolysat-Nahrung zur Prävention von Allergien gar | |
nicht auf dem Markt bestehen. Denn HA-Nahrung enthält aufgespaltene | |
Proteine, und diese verleihen der Milch einen leicht sauer-bitteren | |
Geschmack. Auch Babynahrung auf Basis von Sojamilch schmeckt bitter. | |
Studien von der US-Forscherin Julia Menella vom Monell-Institut aus dem | |
Jahr 2006 konnten zeigen, dass dies erheblich das kindliche Essverhalten | |
prägte. So mochten mit Alternativmilch gefütterte Säuglinge im ersten Jahr | |
seltener Broccoli oder Blumenkohl. Allerdings war von der Abneigung | |
gegenüber Kohl im Alter von vier bis fünf Jahren nichts mehr zu merken. Die | |
Forscherin erklärt dies mit einer "sensorisch spezifischen Übersättigung". | |
Jeder kennt das, wenn man von einer Speise zu oft isst, kann man sie | |
irgendwann nicht mehr sehen. Später legt sich diese Abneigung aber wieder. | |
Und so sind im Alter von zehn Jahren bei den HA-Kindern noch ähnliche | |
Effekte sichtbar. Sie mögen den Geschmack von Bitterem und Saurem. Das hat | |
kürzlich eine Studie des Helmholtz-Zentrums in München ergeben. So könnte | |
man auch das verschiedene Essverhalten der Geschwister Nele und Luis | |
erklären. Denn: Nele, 1,5 Jahre, hat anfangs HA-Nahrung bekommen, während | |
Luis gestillt wurde. | |
Der Geschmack von Karotte oder Steak wird jedoch auch durch die darin | |
enthaltenen Aromastoffe geprägt. So wird der Nachwuchs bereits im | |
Mutterleib über Geruch und Geschmack des Fruchtwassers auf die spätere | |
Familienkost eingeschworen. Der Geschmackssinn ist im siebten, der Geruch | |
ab dem achten Schwangerschaftsmonat funktionstüchtig. | |
Später nehmen gestillte Babys über die Muttermilch spezifische Aromen auf. | |
So ergab eine Studie, dass Mütter, die Vanilleextrakt mit der Nahrung zu | |
sich nehmen, im Schnitt um 25 Prozent ausgiebiger stillten, weil die Kinder | |
die süßliche Vanille in der Milch mochten. Auch wenn die Mutter | |
Karottensaft trank, bevorzugten gestillte Babys später einen Beikostbrei, | |
der mit Karottensaft angerührt worden war. | |
Gestillte Kinder akzeptieren darum generell leichter unterschiedliche | |
Lebensmittel in der Beikost als Flaschenkinder. Allerdings ist auch die | |
Zeit im Mutterleib für die Geschmacksprägung bedeutend. Sie hält bis einige | |
Monate nach der Geburt an. Layla Esposito vom National Institute of Child | |
Health and Human Development in Maryland rät daher: "Schwangere und | |
Stillende sollten viele aromareiche und gesunde Nahrungsmittel essen." Dies | |
im Zusammenhang mit einer abwechslungsreichen Beikost könnte Kinder | |
befähigen, sich gesund zu ernähren und Übergewicht vorzubeugen. | |
Damit Babys die Tütenmilch mögen, mischen Babynahrungshersteller auch | |
Frucht- und Vanillearomen in ihre Produkte. Bereits im Jahr 1999 zeigten | |
Forscher von der Gesellschaft für Sensorische Analyse und | |
Produktentwicklung (ASAP), welche Folgen diese Praxis hat: Menschen im | |
Alter von 12 bis 59 Jahren wurden zwei verschiedene Ketchup-Sorten | |
vorgesetzt. Eine Sorte war mit Vanillin versehen und wurde von der Gruppe, | |
die als Baby per Flasche gefüttert wurde, eindeutig (67 Prozent) bevorzugt, | |
während nur jeder dritte gestillte Proband das Vanille-Ketchup mochte. | |
So sind viele Menschen auf Vanille getrimmt worden - man spricht sogar von | |
der Vanille-Generation. Und die kauft Produkte, die das an Sommer | |
erinnernde Aroma enthalten - auch für den Nachwuchs. Die Gefahr: "Kinder | |
lehnen in der Folge alles ab, was nicht immer gleich und nach Vanille | |
schmeckt", warnt der Ernährungswissenschaftler Guido Ritter von der | |
Fachhochschule Münster. "Für mich ist die Geschmackverarmung in den USA ein | |
Grund für die dortige Übergewichtsepidemie." | |
Allerdings sind Eltern nicht machtlos. In zahlreichen Studien konnte belegt | |
werden, dass das häufige Anbieten von Neuem schließlich zum Erfolg führt. | |
Allerdings muss man es oft acht- bis zehnmal versuchen, bis ein Kind von | |
der unbekannten Erdbeere überhaupt isst oder immer mehr isst. Zwingen | |
sollte man den Nachwuchs nicht, weil Kinder so Hunger- und Sattheitsgefühle | |
nicht mehr wahrnehmen. | |
Auch das Argument "Das ist gesund" interessiert Kinder wenig. "Kinder haben | |
ein natürliches Essverhalten, das Eltern eher stören", meinte der | |
mittlerweile verstorbene Ernährungswissenschaftler Volker Pudel. Er | |
forderte darum: "Mehr Gelassenheit am Familientisch!" | |
15 Jul 2010 | |
## AUTOREN | |
Kathrin Burger | |
## TAGS | |
Babys | |
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