# taz.de -- Zehn Jahre Guantánamo: Der gute Patriot | |
> Als Ermittler in Terrorprozessen besucht Stuart Couch Guantánamo. Liest | |
> Vernehmungsprotokolle. Dann bekommt er Zweifel. Und trifft eine | |
> Entscheidung, die sein Leben verändert. | |
Bild: Zehn Jahre und noch immer 171 Inhaftierte: das US-Gefangenenlager Guantá… | |
Er hätte bleiben müssen. Eigentlich. Doch einer Sache den Rücken zu kehren | |
ist nicht Stuart Couchs Art. Schließlich war es ein gute Sache, eine | |
gerechte. Etwas, das er unbedingt wollte. Für sich, für seinen guten Freund | |
aus alten Militärzeiten, für sein Land. Stuart Couch ist Patriot, | |
konservativ, wählt Bush. Ein typisch weißer, konservativer Amerikaner. So | |
einer gibt nicht so leicht auf, führt Dinge zu Ende. Die Verantwortlichen | |
der Terroranschläge vom 11. September 2001 zur Rechenschaft zu ziehen, das | |
war das Ziel vor zehn Jahren. Das konnte er noch tun für Michael Horrocks. | |
Ihn hatte er verloren um 9.03 Uhr am 11. September 2001. Horrocks hatte als | |
Pilot im Cockpit der Maschine gesessen, die in den Südturm des World Trade | |
Center raste. | |
Ende November 2001 wurden Freiwillige als Ermittler gesucht, um die Fälle | |
der verhafteten Terrorverdächtigen zu bearbeiten und vor Gericht zu | |
bringen. Couch meldete sich. Es war eine Rolle wie gemacht für den heute | |
46-Jährigen. Einst Marinepilot, dann Anwalt - er brachte alles mit für | |
diese Berufung. Die Kenntnisse über die Mechanismen der amerikanischen | |
Armee, das juristische Wissen und den Ehrgeiz eines Menschen, der noch | |
diese eine Sache für den toten Freund erledigen möchte. Er selbst | |
betrachtet seine Entscheidung von damals nüchtern. Ruhig und zurückgenommen | |
spricht er über den Tod seines Freundes, Pathos ist nicht seine Sache. Der | |
Jurist scheint durch, wenn er seine Geschichte erzählt. Nüchtern, nach | |
Faktenlage. Doch auch solche Sätze sagt Couch: "Ich wollte die Jungs | |
drankriegen, die Amerika angegriffen hatten." | |
## Lichtblitze und laute Heavy-Metal-Musik | |
Als Ermittler hatte Couch, der im August 2003 schließlich seine Tätigkeit | |
beim "Office of Military Commissions" aufnahm, einen der wichtigsten Fälle | |
zu verantworten: Mohamedou Ould Slahi. Ein mutmaßlicher Topterrorist mit | |
engen Verbindungen zu Osama bin Laden. Slahi, gebürtiger Mauretanier, der | |
jahrelang in Deutschland gelebt hatte, wurde nach den Anschlägen in | |
Mauretanien aufgegriffen und über den Umweg Jordanien 2002 nach Guantánamo | |
überstellt. In den USA gilt er als Helfer der Attentäter von 9/11. Ein | |
Bilderbuchfall, der eigentlich nur noch vor Gericht gebracht werden musste. | |
"Aber im Laufe der Ermittlungen wurde mein Unbehagen immer größer", | |
erinnert sich Couch. Unbehagen ist ein Gefühl, das es zu ignorieren gilt, | |
will man eine Sache zu Ende bringen. Und das war sein Ziel: mit seinen | |
Fähigkeiten einen Beitrag zu leisten. | |
Verhörprotokolle lesen, Informationen vom Militär und den Geheimdiensten | |
verarbeiten, Guantánamo besuchen. Die erste Reise machte Couch im Oktober | |
2003, er sollte das Verhör eines Gefangenen mitverfolgen. Auf dem Weg zum | |
Verhörzimmer wird Couch von lauter Heavy-Metal-Musik abgelenkt. "Die Zelle | |
war dunkel, Lichtblitze flackerten immer wieder auf." Dem Gefangenen sind | |
mit kurzen Handschellen die Hände an die Füße gebunden worden, sein | |
Oberkörper bewegt sich vor und zurück, vor und zurück. Die Musik läuft und | |
läuft. Couch kennt diese Art der Verhörmethoden. Schließlich hatte er die | |
amerikanische Militärschule durchlaufen, inklusive Vorbereitung auf eine | |
mögliche Gefangenschaft. Dass Gefangenschaft auch in den USA dieses Gesicht | |
trägt, undenkbar für ihn. Auf Nachfrage versichert ihm seine | |
Guantánamo-Eskorte lediglich, die Methoden seien genehmigt. | |
Der Besuch geht vorüber, die Bilder lassen sich nicht verdrängen. Couchs | |
Gewissen meldet sich, obwohl er doch eigentlich nur seinen Job erledigen | |
soll. Neun Monate lang landen die Protokolle der Verhöre mit Slahi auf | |
Couchs Tisch, direkten Kontakt mit ihm hat Couch nie. Mit jedem | |
Schriftstück, das er liest, wird sein Unbehagen größer. Erst schweigt | |
Slahi, dann nennt er plötzlich Namen von Al-Qaida-Mitgliedern in Europa, | |
zeigt sich kooperativ. Couch recherchiert, fragt nach, versucht zu | |
ergründen, wie genau die Verhöre von Slahi abgelaufen sind. | |
## Gefälschter Brief | |
Alles im legalen Rahmen, heißt es. Schließlich erhält Couch zwei damals | |
geheime, heute freigegebene Dokumente, die den Wendepunkt für den | |
Staatsanwalt bedeuten. Eins ist ein gefälschter Brief, angeblich vom | |
amerikanischen Auswärtigen Amt an Slahi adressiert, der ihn unter Druck | |
gesetzt haben könnte. Darin steht, dass seine Mutter verhaftet worden und | |
auf dem Weg nach Guantánamo sei. Als einzige Frau zwischen hunderten | |
Männern. Sicherheit nicht garantiert. "Das zweite Dokument deutete an, dass | |
Slahi Halluzinationen habe und er psychisch instabil sein könnte", | |
berichtet Couch. Nur Gewalt konnte für die entsprechenden | |
Ermittlungsergebnisse gesorgt haben, um den Fall vor Gericht zu bringen, | |
wird Couch klar. Ermittlungen, die wertlos sind vor Gericht. Ein | |
Geständnis, erwirkt unter Folter. | |
Couch befindet sich in einem Dilemma. Hier die Pflicht, den Fall vor | |
Gericht zu bringen, Gerechtigkeit für seinen Freund, Genugtuung für eine | |
Nation zu erlangen. Dort das eigene Gewissen, die Moral und nicht zuletzt | |
die UN-Antifolterkonvention und die Ethik einer Rechtsprechung, der sich | |
Couch mit seinem Abschluss an der Duke-Universität in North Carolina | |
verpflichtet hat. | |
"Es war eine der wichtigsten Entscheidungen in meinem Leben", erinnert er | |
sich heute. Der Blick ist klar, die Stimme fest, wenn er seine Geschichte | |
erzählt. Zweifel hat er vor zehn Jahren hinter sich gelassen. Weitermachen | |
oder gehen? Freunde und Weggefährten werden zu Ratgebern. Darunter seine | |
Frau Kim, eine Krankenschwester, und ihre Brüder, der eine Soldat, der | |
andere Theologe. Ihre Lebenswelten gaben ihren Rat an Couch vor. | |
Durchziehen, sagte der eine; gehen, der andere. Ohne wirklich zu wissen, | |
was Couch umtreibt, da der Staatsanwalt zur Geheimhaltung verpflichtet ist | |
und nur vage über sein Problem sprechen kann. Die Entscheidung muss er | |
allein treffen. | |
## "Du hälst dich für etwas besseres" | |
Er fällt sie schließlich während einer Taufe. Couch sitzt in der | |
Kirchenbank, die Liturgie endete mit der Frage des Pastors: "Wirst du alles | |
tun, um Gerechtigkeit in der Welt zu erreichen und die Würde jedes | |
menschlichen Wesens zu respektieren?" Der patriotische Amerikaner in ihm, | |
der seinen Freund verloren hat, will die Verantwortlichen der Anschläge des | |
11. September immer noch "drankriegen" - der Gläubige will es nicht. Nicht | |
so. "Ich glaubte als Christ nicht daran, dass ich weiter Teil des Prozesses | |
sein konnte." | |
Doch Couch ist nicht erleichtert. Er muss seinem Chefermittler noch sagen, | |
dass er den Slahi-Fall niederlegen wird. Den Prestigefall, um den ihn | |
Kollegen beneidet und für den ihm Vorgesetzte auf die Schulter geklopft | |
haben. "Du hältst dich also für etwas Besseres als die anderen hier", sagt | |
ihm sein Chef, nachdem er ihm eröffnet hat, dass er den Fall niederlegt. | |
Doch Couch geht es nicht um sich. Das Schulterklopfen ist ihm egal. Fragen | |
des Rechts und der Moral treiben Couch an. | |
Am System zweifelt der Mann mit dem akkuraten Seitenscheitel dennoch nicht. | |
Drei Jahre hat er sich verpflichtet und daran hält er sich. Kümmert sich um | |
andere Fälle, um solche, bei denen die Ermittlungen schon vor Guantánamo | |
die entscheidenden Beweise erbracht haben. Der Fall Slahi läuft ohne Couch | |
weiter. Zur Anklage ist es bis heute nicht gekommen. Slahi ist weiter in | |
Guantánamo inhaftiert, seit neun Jahren und fünf Monaten. Der Fall macht | |
international Schlagzeilen, Slahi selbst äußert sich und erhebt schwere | |
Foltervorwürfe gegen die US-Regierung. | |
Vorwürfe hört man von Couch nicht. Er glaubt an die Schuld Slahis. Welches | |
Vergehen er begangen hat, weiß er nicht. Die Fakten fehlen. "Man muss die | |
Verhörmethoden mit einbeziehen, bevor man sich der Wahrheit nähern kann", | |
sagt er. Der Militärstaatsanwalt kennt die Wahrheit im Fall Slahi nicht. | |
Niemand kennt sie, auch lange nachdem Couch seinen Dienst beendet und die | |
obligatorische Verdienstmedaille bekommen hat. | |
## Stolz, ein Christ zu sein | |
George W. Bush wählt der Soldat Couch 2004 erneut. Trotz seiner Erlebnisse | |
auf Guantánamo. Und später zeigt Couch Verständnis dafür, dass der jetzige | |
US-Präsident Obama sein Wahlversprechen, das Lager zu schließen, bislang | |
nicht eingelöst hat. Man darf den Juristen nicht falsch verstehen. Er ist | |
nicht für Guantánamo, doch einer Schließung des Lagers stehen juristische | |
Hindernisse im Weg. "Aber ich glaube, dass die Regierung hart daran | |
arbeitet", sagt Couch. Eine einfache Antwort für einen Mann, der nicht an | |
einfache Antworten glaubt, der die Grausamkeit in Guantánamo ablehnt. Der | |
vom Militärstaatsanwalt zum Berufungsrichter bei der Marine wurde, um | |
schließlich nach 22 Jahren Dienst 2009 in seinem Heimatstaat North Carolina | |
wieder als Anwalt zu arbeiten. | |
Inzwischen arbeitet er wieder für die Regierung. Nicht für die Armee, aber | |
für das System. Als Berufungsrichter für Abschiebefälle von Immigranten. | |
"Ich bin dankbar, meinem Land auch nach Ausscheiden aus der Armee dienen zu | |
können", sagt Couch. Ob die Politik des Landes für ihn eher die Handschrift | |
Obamas tragen sollte oder die eines Republikaners, verschweigt er | |
gewissenhaft, ganz bescheidener Diener seines Landes. Und doch trägt er | |
etwas Stolz in sich. Stuart Couch ist stolz, ein Christ zu sein. Und stets | |
nach seinem Glauben zu handeln. | |
11 Jan 2012 | |
## AUTOREN | |
Rieke Havertz | |
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