# taz.de -- Sachbuch über „Post-Privacy“: Den Datendrachen reiten | |
> Bedeutet der Verlust der Privatsphäre mehr staatliche Kontrolle? Nicht | |
> verteidigen, sondern strategisch nach vorne agieren, ist das Credo | |
> Christian Hellers. | |
Bild: Der Datenkrake muss kein Feind sein. | |
Vergesst die Finanzhaie, die Baulöwen, die Heuschrecken! Der Horrorzoo des | |
Turbokapitalismus hat im Internetzeitalter ein neues Monster geboren: den | |
Datenkraken. Überall saugen die Googles dieser Welt unsere | |
Lebensinformationen auf, werden immer reicher und mächtiger – und nur ein | |
paar wackere deutsche Datenschutzbeauftragte können sie noch stoppen und | |
unsere heilige Privatsphäre retten. | |
So ist, etwas vereinfacht, der aktuelle Debattenstand zum Datenschutz. Dass | |
es auch andere Interpretationen gibt, zeigt die noch junge | |
„Post-Privacy“-Bewegung, die sich unter anderem in der | |
„Datenschutzkritischen Spackeria“ organisiert und im Frühjahr 2011 eine | |
erste Runde Medienaufmerksamkeit erhielt. Einer von ihnen, der 26-jährige | |
Christian Heller, hat nun ihre Grundthesen aufgeschrieben. | |
Sein schlicht „Post-Privacy“ betiteltes Buch beginnt mit einer | |
Bestandsaufnahme. Die „Verdatung“ der Welt ist tatsächlich nicht zu | |
stoppen: Was wir einmal in die gigantische Speicher- und | |
Reproduktionsmaschine Internet geben, kommt da nie wieder raus. Und weil | |
digitale und nichtdigitale Lebensbereiche immer mehr verschmelzen, Computer | |
zudem immer intelligenter Datenmassen durchpflügen und Leerstellen selbst | |
ausfüllen, hilft nicht mal die Verweigerung. | |
Anstatt nun Abwehrschlachten gegen das Unvermeidliche zu führen, sollten | |
wir deshalb lieber lernen, als mündige User den Übergang in eine | |
transparente Gesellschaft zu schaffen, wobei der Transparenzanspruch dann | |
auch und gerade für die staatlichen Institutionen gelten muss. Heller | |
postuliert das Ideal der entfesselten, der frei flottierenden Daten, aus | |
deren Schatz sich Menschheit und Wissenschaft bedienen können sollen. | |
Dem stellt er die von einer besonderen Angst getriebene deutsche Schule der | |
Datenschutzpolitik gegenüber, die lieber „den Datendrachen tötet, anstatt | |
auf ihm zu reiten“. Wobei auch deutsche Datenschützer zahm bleiben, wenn | |
der Staat ein Bedürfnis hat, selbst Daten zu sammeln. | |
## Datenschutz geht nur mit Überwachung | |
Möglich wäre allumfassender Datenschutz ohnehin nur, würde man konsequent | |
alle Datenströme im Netz nachverfolgen und überwachen, damit auch ja nichts | |
in falsche Hände gerät. Für Heller ist Datenschutz somit immer auch | |
Unterdrückung und Drosselung des freien, anarchischen Datenflusses – und | |
steht Seite an Seite etwa mit der Rechteverwertungsbranche und ihrem Kampf | |
gegen Filesharer und Raubkopierer. | |
Zugleich zeigt Heller auf, dass Privatsphäre erstens kein Wert an sich ist | |
und zweitens keineswegs immer da war. In der Antike galt der öffentliche | |
Raum als höchstes Gut. Das Verb „privare“ ist eher negativ konnotiert, es | |
bedeutet „berauben“. Und erst in den letzten Jahrhunderten fanden die | |
Menschen aus der großen Wohn-, Ess- und Schlafstube in separat zugängliche | |
Privatgemächer. | |
Wobei dieses Mehr an Privatsphäre nicht nur ein Segen war. Im Bürgertum | |
stärkte der von der staatlichen Machtausübung abgekoppelte private Raum | |
patriarchale Strukturen. Für die Arbeiterschaft bauten Industrielle schicke | |
Sozialwohnungen nicht nur aus Menschlichkeit, sondern um die konspirative | |
Verbrüderung in Massenbehausungen zu unterbinden. | |
Die größte Stärke Hellers ist, dass er Neues nicht per se als Bedrohung | |
sieht. Zentrale Begriffe wie das Private, Daten, Macht, Wissen definiert er | |
erst, um sie dann, befreit vom semantischen Ballast der aktuellen Debatte, | |
in seiner Argumentation zu nutzen. Dabei sind nicht alle seine Thesen und | |
Beispiele unbedingt einleuchtend. Einige Annahmen zum Segen einer | |
transparenten Gesellschaft, in der sich alle notfalls gegenseitig | |
kontrollieren können, erscheinen, wie er selbst zugibt, utopisch-naiv. | |
Dennoch leistet „Post-Privacy“ in der zunehmend hysterischen | |
Datenkraken-Diskussion einen wichtigen Beitrag: indem es einfach mal ein | |
paar Begriffe klarzieht und zeigt, dass die Datenentfesselung nicht immer | |
nur als Gefahr, sondern auch als Chance begreifbar ist. | |
Christian Heller: „Post-Privacy. Prima leben ohne Privatsphäre“. C.H. Beck, | |
München 2011, 174 Seiten, 12,95 Euro | |
15 Jan 2012 | |
## AUTOREN | |
Michael Brake | |
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