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# taz.de -- Debatte totale Transparenz: Voyeuristen, nicht Aufklärer
> Immer neue Details aus dem Wulffschen Alltagsleben werden ans Licht
> gezerrt und als Nachricht verkauft. Mit Aufklärung hat das nichts zu tun.
Bild: Transparent und doch kein klarer Blick.
In der Finanzkrise, in der Eurokrise, beim Klimawandel, ach, bei all diesen
großen Fragen der Zukunft verhaspeln sich die Medien gern mal bei der
Fehleranalyse. Alles so komplex hier. Dieser Tage aber weiß die Presse,
zumal die Hauptstadtpresse wieder, worum es geht, dieser Tage ist sie
siegesgewiss und schießt aus vollen Rohren: Transparenz for President!
Diesmal kann nichts schiefgehen.
400 Fragen wurden Christian Wulff bereits vorgelegt. Sie alle und noch mehr
müssten beantwortet werden, darauf habe die Öffentlichkeit ein Anrecht.
Denn jetzt wird nicht mehr geschummelt. Jetzt wollen wir alles: die
Abschrift, das Tondokument, jetzt wird durchleuchtet, jetzt wollen wir die
Kontrolle und die Durchsicht und das Datum deines Hochzeitstages und die
Herkunft des Bobbycars für deinen Sohn, dann haben wir nämlich wieder den
Überblick.
Und du, du von der Kanzlerin zum Bellevuebewohner aufgeblasener
Ministerpräsident aus Niedersachsen, du kannst bald wieder deinen Rasen
sprengen. Dort, wo du herkommst und hingehörst: in der Provinz.
## Jetzt wollen wir alles wissen
Die Forderung nach lückenloser Transparenz befriedigt also voyeuristische
Selbstermächtigungsgelüste - und der Präsident gibt ihr nach. Bringt das
Ganze sonst noch Erkenntnisse? Nein, tut es nicht, zumindest keine, die
Machtverhältnisse aufdecken würden.
Das ist auch nicht verwunderlich, denn die frei schwebende, also totale
Transparenzforderung, sie gehört zum Erbe des Neoliberalismus, der Ära der
legitimierten Deregulierung, der Politikverdrossenheit und der
unterschätzten Elitenbildung, genauer: Es ist das letzte Stückchen davon,
das offenbar schadlos über die Finanzkrise hinübergerettet wurde.
Transparenz um jeden Preis ist der Diskursjeton, der jeden machtkritischen
Menschen aufhorchen lassen muss.
Sinnbildlich verkörpert etwa das vollkommen transparente, da vollkommen
gläserne Hochhaus der Deutschen Bahn auf dem Berliner Potsdamer Platz die
Tücken der neoliberalen Ideologie, die Durchleuchtung mit Erleuchtung im
buchstäblichen Sinne gleichsetzt. Jedes einzelne Büro wird sieben Tage pro
Woche 24 Stunden illuminiert und so das Innenleben dem interessierten Blick
des Passanten dargeboten.
Der zufällige Passant ist durchaus vergleichbar mit dem Internetuser.
Jeder, der will, kann sich also einklicken - in den Arbeitsalltag der
DB-Zentrale. Das ist das Angebot. Erkenntnis bringt es keine, Gerechtigkeit
auch nicht. Im Gegenteil.
## Der Fetisch vom gläsernen Haus
So bedeutet die transparente Membran für die Angestellten in der
DB-Zentrale, zumal wenn sie in den unteren Etagen sitzen, dass nun jeder
Fußgänger wissen kann, ob sie beim Arbeiten Schuhe tragen oder nicht. Sie
verlieren also an Privatsphäre. Und die Chefs in den oberen Etagen sind dem
öffentlichen Blick genauso entzogen wie sie es in Backsteinbauten wären.
Allerdings ist ihr Image besser.
Anders wäre es gewesen, das Durchsichtigkeitsprogramm wäre mit einer
Umorganisation der Bürovergabe einhergegangen. Die Chefs ganz unten, dem
Blick der neugierigen Bevölkerung preisgegeben, die für die breite
Öffentlichkeit uninteressanten, also einflusslosen Leute ganz oben in der
20. Etage, dort, wo sie sowieso keiner sehen kann. Das kommt Ihnen absurd
vor? Eben. Die Verheißung von Transparenz per se greift keine
Machtverhältnisse an. Sie transportiert kein Konzept von Veränderung.
Auch der historisch belastete Reichstag bekam eine gläserne Kuppel
verpasst, auch er spielt mit dem Symbol der Transparenz. Touristen aller
Welt können nun beobachten, wie leer das deutsche Parlament tagein, tagaus
ist. Na und? Es ist für die unten getätigten Debatten und Geschäfte
irrelevant, wer da oben rumläuft und bemerkt, dass da unten nicht viel zu
sehen ist. Damit ist das Stichwort gefallen: Relevanz.
Transparenzforderungen ohne Relevanzfilter sind Augenwischerei. Sie dienen
dem Voyeur, nicht dem Aufklärer. Warum aber funktionieren sie trotzdem so
gut?
Damit wären wir bei der Pornografie. 400 Fragen im Netz, die keine
Privatsphäre mehr akzeptieren, sowie gläserne Gebäude, die nur die weniger
verdienenden ArbeitnehmerInnen dem allgemeinen, diffusen Blick aussetzen,
und Pornografie haben nämlich manches gemeinsam.
## Wo bleibt die Privatsphäre?
Auch die klassische Pornografie lebt von der Verheißung, dass das ganz nahe
Rangehen der Kamera an den Sexualakt und die peinlich genaue, eben
schamlose Ausleuchtung der Sexualorgane etwas Neues ans Licht bringt. Total
transparenter Sex ohne Intimsphäre fördere das zutage, was die Gesellschaft
mit all ihren Tabus so vehement zu verbergen sucht. Um Missverständnissen
vorzubeugen: Gegen Pornografie ist überhaupt nichts zu sagen. Nur wer sie
mit Aufklärung verwechselt, macht einen Fehler.
Denn er und sie übersehen, dass das pornografische Versprechen grundlegend
ambivalent ist und gerade nicht in erster Linie auf Aufklärung setzt. So
gibt Vernichtung der Intimsphäre ja keine belastbare Auskunft über das
Geheimnis der Lust, aber der Spaß am Zusehen verführt dazu, es mit dem
nächsten Porno noch mal zu versuchen. Die voyeuristische Befriedigung
schafft sich also eine Endlosschleife.
Trotzdem können pornografische Bilder einen Mehrwert haben, nicht nur in
Sachen Kick und Lust, sondern auch in Sachen Sensibilisierung. Es kommt auf
den gesellschaftlichen Zusammenhang an, denken Sie nur an die
polarisierenden Nacktfotos der jungen Bloggerin aus Kairo. Alia al-Mahdi
zeigt mit ihren Selbstporträts nicht nur das Verbotene, sondern macht auch
das Verbot weiblicher Enthüllung sichtbar.
Demgegenüber macht die aktuelle Debatte über das im Wulff'schen
Familienbesitz befindliche Spielzeugauto nur transparent, dass die
Mainstreampresse einmal mehr ihre Kontrollfunktion willfährig dem Spektakel
geopfert hat. Berechtigte Nachfragen nach der Vorteilsnahme im Amt -
Stichwort supergünstiger Kredit - findet sie genauso wichtig wie ein
geschenktes Spielzeugauto. Das ist nicht nur obszön, das ist vor allem
kindisch.
19 Jan 2012
## AUTOREN
Ines Kappert
## TAGS
Schwerpunkt Überwachung
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