# taz.de -- Geleitwort zur Berlinale: Entzaubertes Mantra | |
> Die 62. Berlinale zeigt vielversprechende Beiträge, die das oftmals | |
> verkündete Politische einlösen könnten. Kritiker klagen über die | |
> mangelnde Bedeutung des Programms. | |
Bild: Bleibt bis 2016 Chef der Berlinale: Festival-Direktor Dieter Kosslick. | |
Bernd Neumann steht hinter Dieter Kosslick. Bis 2016 hat der | |
Kulturstaatsminister den Vertrag des Berlinale-Direktors verlängert, und | |
die Bilanz des Festivals scheint ihm recht zu geben. Das Publikum drängt in | |
die Kinos, im vergangenen Jahr wurden 300.000 Eintrittskarten verkauft. | |
Seit Kosslick das Festival leitet, haben sich dessen Aktivitäten | |
vervielfältigt. | |
Um nur ein paar Beispiele für die Neuerungen der letzten zehn Jahre zu | |
nennen: Es gibt den Talent Campus, einen groß angelegten, mehrtägigen | |
Workshop für junge Filmemacher aus der ganzen Welt; es gibt die Perspektive | |
Deutsches Kino, die dem deutschen Nachwuchs eine Plattform bietet; es gibt | |
den World Cinema Fund, der Projekte aus Asien, Lateinamerika und Afrika | |
fördert; und es gibt "Generation", ein ambitioniertes Programm für Kinder | |
und Jugendliche, das sich in dieser Form kein anderes A-Festival leistet. | |
Hinzu kommen populäre Reihen wie "Berlinale Goes Kiez" oder das | |
"Kulinarische Kino"; die Sponsoren engagieren sich und der European Film | |
Market meldet Jahr für Jahr neue Erfolge. Kurz, es brummt am Potsdamer | |
Platz. Leider brummt es so laut, dass man für Fragen der ästhetischen | |
Relevanz kein Ohr mehr hat. 2011 stieß der mit 16 Filmen ohnehin schmal | |
bestückte Wettbewerb auf wenig Zuspruch. | |
Filmkritiker aus dem In- und Ausland klagten über die mangelnde Bedeutung | |
des Programms; am Ende blieben "Schlafkrankheit" von Ulrich Köhler, "The | |
Turin Horse" von Béla Tarr, "Nader und Simin - eine Trennung" von Ashgar | |
Farhadi und "Margin Call" von J. C. Chandor, die übrigen Filme sind heute | |
mehr oder minder vergessen. | |
## Keine Konkurrenz zu Cannes und Venedig | |
Zum Vergleich: In Cannes gabs 2011 neue Arbeiten von Lars von Trier und | |
Pedro Almodóvar, von Terence Malick und Aki Kaurismäki, von Woody Allen und | |
Nanni Moretti, in Venedig zeigte Alexander Sokurow "Faust", David | |
Cronenberg "A Dangerous Method", Roman Polanski "Der Gott des Gemetzels", | |
George Clooney "The Ides of March" und Philippe Garrel "Un été brulant". | |
Wie man es auch dreht und wendet: Damit kann die Berlinale nicht | |
konkurrieren. | |
Das Verhältnis zwischen Festivalleitung und Cinephilen also ist zerrüttet, | |
und wie so oft, wenn zwei sich nicht mögen, bringt dies einen Haufen | |
Schuldzuweisungen und Projektionen mit sich. Als der Verband der Deutschen | |
Filmkritik im Oktober unter dem Titel "Was kommt nach den Verrissen?" ein | |
Symposium zur Situation der Berlinale veranstaltete, sagte Dieter Kosslick | |
seine Teilnahme kurzfristig ab, weil er sich von einem rüpelhaft verfassten | |
Ankündigungstext vor den Kopf gestoßen fühlte. | |
Das war sein gutes Recht, trotzdem wäre es souveräner gewesen, in den | |
Dialog zu treten. Manches Problem schuldet sich ja tatsächlich Sachzwängen, | |
so hat die Vorverlegung der Oscar-Verleihung den Nebeneffekt, dass die | |
Berlinale für US-amerikanische Produzenten nicht länger attraktiv ist, wenn | |
sie ihre Filme Oscar-kompatibel präsentieren wollen. Nur: Wie überall sonst | |
auch kommt es natürlich darauf an, wie smart man mit den Sachzwängen | |
umgeht. | |
Umgekehrt merkt man den Kritikern der Berlinale an, dass sie auf Kosslicks | |
Fehlentscheidungen reflexhafter reagieren als beispielsweise auf das, was | |
Marco Müller, solange er die Filmbiennale von Venedig verantwortete, | |
unternahm, um die italienische Kulturpolitik und die italienische | |
Filmbranche zu besänftigen. | |
## Neugierig und offen bleiben | |
Eine Verbissenheit hat sich breit gemacht, die sicherlich nicht nur daher | |
rührt, dass man an Marco Müllers Cinephilie niemals, an der von Kosslick | |
mit guten Gründen durchaus zweifeln würde, sondern auch daher, dass das | |
Engagement für starke künstlerische Positionen im deutschen Filmbetrieb | |
etwas Minoritäres ist. | |
Wer heute in Deutschland vom Kino mehr erwartet als Til Schweiger, Bully | |
Herbig und politisch relevante Sujets in gehobener Ausstattung, der bekommt | |
leicht den Eindruck, mit dem Rücken an der Wand zu stehen. Und das ist | |
nicht die beste Voraussetzung, um sich den neugierigen Blick zu bewahren. | |
Natürlich gehts genau darum: Neugierig und offen zu bleiben. Zumal in der | |
diesjährigen Programmgestaltung durchschimmert, dass die Auswahlkommission | |
einen Teil der Kritik berücksichtigt hat, auch wenn Dieter Kosslick dies in | |
der Öffentlichkeit so nicht sagen mag. | |
Der Eröffnungsfilm etwa weckt einige Erwartungen: "Les adieux à la reine", | |
ein im Jahr 1789 angesiedelter Film des französischen Regisseurs Benoît | |
Jacquot, macht aus zwei Gründen neugierig, zum einen weil Jacquots letzter | |
in Deutschland verliehener Film "Villa Amalia" (2009) toll war, zum anderen | |
weil er mit "Sade" (2000) die Revolutionsjahre, diesen Zeitraum des | |
Umbruchs, der Gewalt und der Neuordnung einer Gesellschaft, schon auf | |
beeindruckende Weise erkundet hat. | |
## Vorfreude auf Petzold und Gomes | |
Außerdem kann man sich auf "Barbara" freuen, das erste period piece des | |
Berliner Filmemachers Christian Petzold, das von einer ausreisewilligen | |
Ärztin in der DDR des Jahres 1980 handelt, und auf "Tabu" von dem jungen | |
portugiesischen Regisseur Miguel Gomes, dessen letzter, mäandernder, | |
verspielter und wunderbar freier Film "Aquele querido mes de agosto" (Jener | |
geliebte Monat August) 2008 in einer Nebenreihe in Cannes lief. | |
"Tabu" ist ein von der Berliner Firma Komplizen Film koproduzierter | |
Schwarzweißfilm, sein Titel deutet bereits an, dass er sich auf den | |
gleichnamigen, großartigen Film von Friedrich Wilhelm Murnau bezieht. Das | |
Mantra, die Berlinale sei ein politisches Filmfestival, wird ja immer | |
wieder entzaubert, weil die vermeintlich politischen Filme einfach nur ein | |
Thema aufgreifen, das sich gerade in den Schlagzeilen befindet. | |
Polemisch formuliert: Gleich ob Blutrache in Albanien, Frauenmorde in | |
Mexiko oder Kindersoldaten im Kongo, irgendein Krisenherd wird sich fürs | |
gehobene Arthouse-Produkt schon finden. Jenseits davon aber gibt es einige | |
vielversprechende Festivalbeiträge, die dieses so lauthals annoncierte | |
Politische tatsächlich einlösen könnten. | |
Ein quer durch die Festivalsektionen gestreuter Programmschwerpunkt etwa | |
widmet sich dem Arabischen Frühling. Romuald Karmakar stellt im Panorama | |
seinen Essay "Angriff auf die Demokratie - Eine Intervention" vor, einen | |
Film, der aus einer Diskussionsveranstaltung im Berliner Haus der Kulturen | |
der Welt hervorgegangen ist und der zentrale Fragen berührt: Wie kann sich | |
Demokratie in der gegenwärtigen Eurokrise, in Zeiten der | |
Public-private-Partnership und des allgegenwärtigen Lobbyismus behaupten? | |
## Papst in Erfurt | |
Im Forum stellt Thomas Heise "Die Lage" vor, er zeigt darin Erfurt an jenem | |
Septembertag, an dem der Papst zu Besuch kam, sein Blick ist ruhig und | |
registrierend, er konzentriert sich auf das, was an diesem Besuch Arbeit | |
ist, auf das Protokoll, auf die Polizisten, die Sanitäter, die Blumenkinder | |
am Flughafen, und dabei stellt sich immer dringlicher die Frage, wie | |
schlecht es um die Säkularität des deutschen Staats bestellt ist. | |
Ebenfalls im Forum läuft "Revision" von dem Berliner Filmemacher Philip | |
Scheffner. Im Sommer 1992 werden zwei Roma auf einem Getreidefeld in | |
Mecklenburg-Vorpommern von Jägern erschossen. Wahrscheinlich war es ein | |
Unfall, aber es gibt viele Ungereimtheiten. Scheffner blickt wieder und | |
wieder auf das Geschehen, er besucht die Angehörigen der Toten in Rumänien, | |
er spricht mit den damals ermittelnden Polizisten, mit einem | |
Gerichtsmediziner, mit einem Vertreter der Staatsanwaltschaft, mit dem | |
Anwalt eines Schützen. | |
Was dabei nach und nach zum Vorschein kommt, ist zum einen der Umstand, | |
dass die unterschiedlichen Perspektiven auf das Geschehen nach so vielen | |
Jahren nicht mehr zur Deckung kommen, was wiederum Konsequenzen für die | |
Filmerzählung selber hat. Zum anderen bezeugt "Revision" eine erschreckende | |
Teilnahmslosigkeit der ermittelnden Behörden und der Justiz. | |
Wichtige Zeugen wurden noch vor Eröffnung des Prozesses gegen die beiden | |
Jäger abgeschoben, die Angehörigen vom Prozess nicht mal in Kenntnis | |
gesetzt, die Schützen schließlich freigesprochen. Aus "Revision" schaut | |
einem ein hässliches Deutschland entgegen, und diese Hässlichkeit hätte man | |
vielleicht verdrängen können, solange die Mordserie der NSU-Terroristen | |
unentdeckt blieb. Heute muss man sich ihr stellen. | |
9 Feb 2012 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
Cristina Nord | |
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Finnland | |
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