# taz.de -- Stummfilme vertonen: "Ein Fehler kann genial sein" | |
> Stephan von Bothmer ist einer der bekanntesten Stummfilm-pianisten | |
> Deutschlands. Am heutigen Freitag startet seine Konzertreihe im Dom | |
Bild: Stephan von Bothmer | |
taz: Herr von Bothmer, wir leben in der Ära von DVD und Blu-Ray. Was reizt | |
Sie am antiquierten Stummfilm? | |
Stephan von Bothmer: Der Stummfilm ist sehr anachronistisch. Mich reizt, | |
dass ich bei jedem meiner Stummfilmkonzerte improvisiere. Ich sehe den Film | |
live mit und verhalte mich mit meiner Persönlichkeit zu ihm. Indem ich die | |
Musik jedes Mal für mein Publikum neu mache, entsteht etwas Einzigartiges. | |
Sie verhalten sich mit ihrer Persönlichkeit zum Film - was meinen Sie | |
damit? | |
Mein Befinden prägt die Improvisation. Wenn ich beispielsweise kürzlich | |
eine Phase hatte, in der ich mich mit afrikanischer Musik beschäftigt habe, | |
dann kommt stärker das Düstere und Dämonische in einen Film. Hatte ich vor | |
einem Konzert zufällig einen Streit, wirkt sich das ebenfalls auf mein | |
Klavierspiel aus. | |
Welche Macht hat die Musik über den Stummfilm? | |
Die Wirkung der Musik kann sehr extrem sein. Bei der Neuaufführung von | |
Fritz Langs Metropolis auf der Berlinale 2010 gab es im | |
Friedrichstadtpalast eine Aufführung mit Orchester. Die Leute haben den | |
Film später im Gang als kitschig beschrieben. Kurz darauf habe ich zum | |
selben Film im Zoopalast mit einem Ensemble gespielt. Mehrere Leute kamen | |
im Anschluss zu uns auf die Bühne und zeigten sich überrascht. Sie hatten | |
den Film schon im Friedrichstadtpalast gesehen und fanden es unglaublich, | |
welche Tiefe und Dramatik der Film mit unserer Musik hatte. | |
Sie haben bisher mehr als 500 Stummfilmkonzerte gespielt. Die wenigsten der | |
alten Filme gibt es auf DVD. Wie kommen Sie an die alten Medien ran? | |
Die Beschaffung eines Filmes ist ein großes Problem. Meist ist ein enormer | |
Rechercheaufwand vonnöten. Am Ende der Stummfilmära hatte man eine riesige | |
Auswahl an Filmen. Davon sind nur fünf Prozent in den Filmarchiven der Welt | |
vorhanden, nicht alle sind in guter Qualität erhalten. Mit Glück hat ein | |
Archiv den Film auf VHS gespielt, dann kann ich ihn vorher sehen. Nicht | |
selten ist mir ein Film bis zur ersten Aufführung unbekannt. Dann gehe ich | |
auf die Bühne und habe keine Ahnung was läuft. | |
Sie vertonen einen Film ohne zu wissen, was passiert? | |
Die Improvisation wirkt erstaunlich gut. Dadurch, dass der Musiker nicht | |
weiß, wie es weitergeht, kommt eine Spannung in die Musik, die sich auf das | |
Publikum überträgt, die man so niemals komponieren könnte. | |
Aber was, wenn der Pianist in einer Szene auf das falsche Pferd setzt? | |
Das passiert natürlich, aber ein Fehler kann mitunter genial sein. Nehmen | |
wir einen Krimi. Es gibt eine romantische Kussszene zwischen einem jungen | |
Paar. Ich spiele dazu ein vergnügtes Liebesthema. Aus dem Nichts stößt die | |
Frau ihm ein Messer in den Bauch. Die Kehrtwende wirkt wie eine emotionale | |
Ohrfeige. Weil ich genauso überrascht wurde wie das Publikum, wirkt sie | |
extrem und authentisch. | |
Im Berliner Dom werden Sie die Filme an der Orgel begleiten. Was | |
unterscheidet das Instrument vom Klavier? | |
Die Orgel kann etwas, was das Klavier nicht kann: Sie kann die dunkle Seite | |
der Welt darstellen. Ich drücke eine Taste und es ertönen die Posaunen von | |
Jericho, die Zerstörung bringen. | |
Im Dom wird auch "Dick und Doof" gezeigt. Passt schallendes Lachen in ein | |
Gotteshaus? | |
Der Pfarrer meiner Kirche meinte einmal, alles was zum Menschen gehöre, | |
gehöre auch in die Kirche. Das finde ich einen klasse Satz. Natürlich | |
gehört "Stan & Ollie" in die Kirche, weil selbst Rachegefühle und | |
Schadenfreude menschlich sind. "Stan & Ollie" ist der revolutionärste von | |
den Filmen, die wir zeigen. Der Kirche scheint eher viel an der stillen | |
Freude zu liegen, die aber auf keinen Fall die Freude über den Schaden | |
anderer miteinbezieht. | |
Wie haben Sie es geschafft, dass Filme erstmals in der Kirche gezeigt | |
werden können? | |
Ich habe ein Konzept geschrieben, das den Dom auf nicht platte Weise nutzt. | |
Ich sehe den Auftritt als eine geistige Öffnung. Die Kirche ist nicht so | |
konservativ, wie ihr nachgesagt wird. | |
Sie neigen zu Experimenten. Zuletzt haben sie in einer Gefängniskirche | |
gespielt. War das Ihre bisher größte Herausforderung? | |
Das Stummfilmkonzert im Gefängnis war eines der intensivsten Erlebnisse | |
seit Langem. Die Hälfte des Publikums waren Besucher, die andere Insassen. | |
Das war alleine gewagt durch die Situation. Die Begleitung von | |
Fußballspielen während der EM 2008 und der WM 2010 war für mich musikalisch | |
gewagter. | |
Sie betätigten sich an der Orgel der Berliner Emmaus-Kirche als | |
Fußballkommentator. | |
Das Fußballspiel war ein Risiko, weil niemand vorher wusste, ob es | |
funktioniert und das Publikum mitgeht. Zudem gab es ein Missverständnis mit | |
der Gemeinde. Ich nahm an, dass ich zum laufenden Ton spiele. Als ich | |
erfahren habe, dass sie diesen abschalten wollen, dachte ich, das klappt | |
doch überhaupt nicht. Die Sache ging dann doch erstaunlich gut. Die | |
Verbindung von Musik und dem Spiel war so intensiv, dass die Leute während | |
des EM-Finales sagten: "Spiel schneller!" Als ob ich die Spieler dazu | |
bringen könnte, energischer zu kämpfen. | |
12 Jan 2012 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Goll | |
## TAGS | |
Stummfilm | |
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