# taz.de -- Japanischer Aktivist über Aufklärung: "Panik ist verflogen, die A… | |
> Der Musiker und Aktivist Otomo Yoshihide im Gespräch über unzuverlässige | |
> Informationspolitik nach Fukushima und sein eigenes Aufklärungsprojekt. | |
Bild: Die Atombombe war ein nationales Trauma. Und wahrscheinlich steckt es noc… | |
sonntaz: Herr Yoshihide, in den Tagen nach der Katastrophe vom 11. März | |
2011 waren oft Bilder von Pressekonferenzen der AKW-Betreibergesellschaft | |
zu sehen: Ein behelmter Ingenieur im Blaumann trat vor die Kamera und | |
erklärte auf einer Tafel Vorgänge. Was kommt Ihnen dabei in den Sinn? | |
Otomo Yoshihide: Ich war sehr enttäuscht, weil mir in diesen Augenblicken | |
jeweils bewusst wurde, dass mein Leben und das vieler anderer in seinen | |
Händen liegt. Der Anblick dieses Manns hatte auch etwas von Slapstick. Es | |
ist gefährlich, wenn die Macht in Händen von Spezialisten liegt, die alles | |
noch so Bizarre verständlich machen wollen. | |
Können Sie sich erinnern, wie in Japan über Atomenergie gesprochen wurde, | |
als Sie jung waren? | |
Als Kind wusste ich von Experimenten mit Wasserstoffbomben und es war auch | |
bekannt, dass von den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki radioaktive | |
Strahlung übrig geblieben war. Wenn es regnete, wurde Strontium gemessen. | |
Ich selbst habe eine ablehnende Haltung gegen Atombomben entwickelt. Das | |
war Teil der schulischen Erziehung. Trotzdem habe ich mir nie ernsthafte | |
Gedanken über die Folgen von Atomkraft gemacht. | |
Wurde die Wirkung der Atombomben mit den Gefahren der Atomenergie | |
zusammengebracht? | |
Nein. Die Atombombe war ein nationales Trauma. Und wahrscheinlich steckt es | |
noch immer in unseren Köpfen. Niemand spricht gern darüber. | |
Sie sind in Fukushima aufgewachsen. Können Sie die Gegend bitte ein wenig | |
beschreiben? | |
Ich bin in der Stadt Fukushima aufgewachsen, sie ist Amtssitz der | |
gleichnamigen Präfektur. Zum Atomkraftwerk ist es von da 60 Kilometer. Die | |
Stadt liegt außerhalb des Sperrgebiets, sie war nicht direkt vom Tsunami | |
betroffen, weil sie im Landesinneren liegt. Die Strahlung ist dort aber | |
auch hoch, wobei der Grad der Strahlung schwankt. Das macht mir Hoffnung. | |
Ansonsten: Fukushima ist eine typische japanische Provinzstadt im Nordosten | |
und weist keine kulturellen Besonderheiten auf. | |
Wurde in der Kulturszene, in der Sie sich bewegen, über Sinn und Zweck der | |
Atomenergie diskutiert? | |
Die ersten Debatten, an die ich mich erinnern kann, entstanden 1979 im | |
Zusammenhang mit dem Störfall des Kernkraftwerks „Three Mile Island“ in | |
Harrisburg, USA. Vorher war Atomenergie kein Gegenstand öffentlichen | |
Interesses. Erst später, 1986 nach dem GAU in Tschernobyl, habe ich | |
verstanden, dass Kernkraft gravierende Sicherheitsrisiken birgt. Das | |
entsprach auch der allgemeinen Stimmung in unserem Land. | |
Die Band Kraftwerk etwa veröffentlichte 1975 ein Album namens | |
„Radioaktivität“ und thematisierte die Gefahren der Atomkraft. Gab es | |
Vergleichbares in Japan? | |
Die japanische Anti-Atom-Bewegung begann erst nach Tschernobyl an Dynamik | |
zu gewinnen. Auch im Musik- und Filmbereich wurde Atomkraft thematisiert, | |
etwa von der Punkband The Stalin. Aber das verebbte wieder. | |
Was waren Ihre ersten Gedanken nach dem Tsunami und der anschließenden | |
Katastrophe? | |
Ich war sehr verstört. Auch in Tokio bebte die Erde, mein Haus wurde heftig | |
durchgeschüttelt, alles war durch das Erdbeben verrutscht, aber zum Glück | |
ist nichts eingestürzt. Ich fürchtete, dass ich meine Heimat verlassen | |
muss. Auch in Tokio wurden einige Tage später erhöhte Strahlenwerte | |
gemessen. Und so hatte ich das ungute Gefühl, dass die Massenmedien das | |
wahre Ausmaß verschweigen würden. Besonders im April sorgte dies für ein | |
Ohnmachtsgefühl. | |
Woran mangelte es am meisten? | |
An verlässlichen Informationen! Wir misstrauten der | |
Medienberichterstattung. Deshalb habe ich angefangen, zusammen mit Freunden | |
eigene Berichte zu verfassen, die wir im Internet posteten und auf dem | |
unabhängigen Webradio sendeten. Wir haben die Berichte inzwischen auch in | |
Buchform veröffentlicht. Das waren ganz simple Ratschläge und Dossiers, für | |
die wir etwa bei Naturwissenschaftlern nachgefragt haben. Zwei Bücher sind | |
erschienen, ein drittes erscheint dieser Tage, ein viertes ist in | |
Vorbereitung. | |
Fühlten Sie sich ausreichend von den Behörden beschützt? | |
Die Behörden waren auf diese Katastrophe unvorbereitet. Das Chaos war | |
vielleicht nicht beabsichtigt. Es hatte den Anschein, als würde uns die | |
hohe Dosis der atomaren Verseuchung in kleinen Dosen mitgeteilt. | |
Handeln die Japaner ein Jahr nach Fukushima solidarisch? | |
Man könnte sagen, unser Land ist geteilt. Tokio ist die Demarkationslinie. | |
In Tokio hat sich das Gefühl der Unsicherheit wieder gelegt. Im Nordosten | |
ist der Ausnahmezustand geblieben. Alle Einwohner leben mit dem | |
Geigerzähler. Unmittelbar nach der Katastrophe waren die Menschen in Panik, | |
jetzt sind sie ruhiger und können besser einschätzen, was für sie | |
gefährlich ist. Besonders im Umgang mit Lebensmitteln haben sich die | |
Japaner sensibilisiert. Auch mir ist der Umgang mit dem Geigerzähler | |
vertraut. Angst bleibt, aber die Panik ist verflogen. | |
Wie haben Sie den Betroffenen geholfen? | |
Wir haben im August ein Festival in Fukushima veranstaltet mit Konzerten, | |
Kunstaktionen und einem wissenschaftlichen Symposion. Menschen aus ganz | |
Japan haben Tuchquadrate geschickt, insgesamt 6.000 Quadratmeter, die wir | |
zusammengefügt haben, um den Boden unter dem Open-Air-Gelände mit einer | |
Unterlage abzudecken. Es kamen 13.000 Zuschauer, und im Internet haben sich | |
mehr als 250.000 Menschen die Darbietungen angesehen. | |
Ist Japan noch lebenswert? | |
In meiner Lebenszeit wird es nicht ins Lot kommen. Trotzdem glaube ich, | |
dass wir den Schaden Stück für Stück wiedergutmachen müssen. Damit nie | |
wieder so eine Katastrophe passiert, bedarf es der Aufklärung, und dabei | |
dürfen wir nicht nachlassen. | |
11 Mar 2012 | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
Julian Weber | |
## TAGS | |
Japan | |
Schwerpunkt Atomkraft | |
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