# taz.de -- Japan ein Jahr nach Fukushima: Wir haben nichts gelernt | |
> Huch! Ein Atomkraftwerk kann ja durchbrennen! Fukushima war kein | |
> Restrisiko, sondern eine absehbare Katastrophe. Und es zeigt, wie wir | |
> Großrisiken fröhlich ignorieren. | |
Bild: Vor einem Jahr: Blick auf das havarierte Atomkraftwerk Fukushima. | |
Thomas Midgley war ein glücklicher Mensch mit reinem Gewissen. Der Chemiker | |
in Diensten des US-Unternehmens General Motors hatte 1929 einen Stoff | |
entwickelt, von dem Techniker träumen: ein Wundermittel für Kühlschränke | |
und Schaumstoffe, geruchlos, ungiftig, nicht entzündlich, vielseitig, | |
leicht zu handhaben und langlebig. | |
Die Fluorchlorkohlenwasserstoffe, die ab 1930 produziert wurden, hatten nur | |
einen Nachteil: Sie zerstörten die Ozonschicht in der Atmosphäre und | |
bedrohten das Leben auf dem Planeten Erde. | |
Erst 40 Jahre später fand ein anderer Chemiker, Paul Crutzen, heraus, was | |
die FCKW an der Ozonschicht im Himmel anrichteten. Selten war ein | |
Nobelpreis so verdient wie der für Crutzen 1995. Thomas Midgley war dennoch | |
kein Vorwurf zu machen. Die Gefahr seiner Entwicklung konnte er nicht | |
erkennen. Sie war „ein hypothetisches Risiko, nach dem Stand der | |
Wissenschaft unbekannt, aber nicht auszuschließen“. So hat 1978 das | |
Bundesverfassungsgericht den Begriff „Restrisiko“ definiert. Und befunden, | |
dass die Gesellschaft bei großtechnischen Anlagen so etwas akzeptieren | |
müsse. | |
Eine Atomanlage, die gegen Erdbeben und Tsunami nicht ausreichend ausgelegt | |
ist und deren Techniker nicht für Notfälle geschult sind, an einem | |
erdbeben- und tsunamigefährdeten Standort zu betreiben kann man Dummheit, | |
Arroganz oder auch Irrsinn nennen. Ein Restrisiko waren Bau und Betrieb des | |
Unglücksreaktors Fukushima Daiichi jedenfalls nicht. | |
## Märchen vom Restrisiko der Atomkraft | |
Und wenn die Bundeskanzlerin und promovierte Physikerin Angela Merkel | |
erklärte, sie habe bis zum Unfall in Japan „das Restrisiko der Kernkraft | |
akzeptiert, weil ich überzeugt war, dass es in einem Hochtechnologieland | |
nicht eintritt“, dann strickt sie nur weiter am Märchen vom Restrisiko der | |
Atomkraft. Fukushima, Tschernobyl, Harrisburg und die Tausenden kleiner und | |
großer Störfälle haben gezeigt, dass die tödliche Gefahr ein Bestandteil | |
von Atomanlagen ist – und keineswegs wie ein Blitz aus heiterem Himmel | |
kommt. | |
Das „Restrisiko“ war immer ein Kampfbegriff von Atomfans wie Angela Merkel. | |
Mit ihm haben sie Geist und Wortlaut des Urteils des höchsten deutschen | |
Gerichts genau so ignoriert wie die Gefahren durch Krümmel, Biblis und | |
andere Reaktoren. Das „Restrisiko“ ist das, was die Bevölkerung nun mal zu | |
schlucken hat, weil im Land AKWs betrieben werden. | |
Mit einem höheren Sicherheitsstandard als anderswo, aber ebenso sicher mit | |
sehr viel mehr Risiken, als sie Kohle-, Gas- oder Windenergieanlagen | |
bergen. Die Atomlobby hat das „Restrisiko“ restlos politisiert, weil | |
darunter einfach alle Gefahren und Widrigkeiten der Atomtechnik subsumiert | |
wurden. Die Atomkraftgegner haben sich an diesem Bild abgearbeitet, auch | |
die taz, weshalb wir vor einem Jahr auf der Titelseite unter der | |
Schlagzeile „Das Restrisiko“ ein Bild des explodierenden Reaktors in | |
Fukushima zeigten. | |
## Shit happens | |
Diese politisierte Betrachtung von Risiko hat einen großen Nachteil. Sie | |
verstellt den Blick auf andere Gefahren unserer Industriegesellschaft. | |
Fukushima hat – in Deutschland – die Atomkraft zum Auslaufmodell gemacht. | |
Aber es hat nicht zum Nachdenken darüber geführt, welche potenziellen | |
Gefahren wir bei der Gentechnik, der Nanotechnik, dem fossilen | |
Energiesystem oder in der Chemieindustrie akzeptieren. Wir haben aus | |
Fukushima nichts gelernt. | |
Dabei wäre das sehr einfach. Die erste Lektion heißt: Gerade in einem | |
„Hochtechnologieland“ wie Japan oder Deutschland bergen die industriellen | |
Anlagen gewaltige Risiken. Selbstverständlich sind die | |
Sicherheitsvorkehrungen streng, aber immer größere und komplexere Systeme | |
verursachen auch immer größere Risiken und werden immer anfälliger für | |
Störungen. | |
Zweite Lektion: Shit happens. Menschen machen Fehler, Maschinen fallen aus, | |
im Sommer ist es heiß, im Winter gibt es Frost. Wer Techniken installiert, | |
die bei Bedienungsfehlern einen immensen Schaden anrichten, spielt mit dem | |
Feuer. Und drittens: Die German Angst vor Atomanlagen war nur zu | |
berechtigt; sie war keine Hysterie trotteliger Gutmenschen, wie oft | |
unterstellt wurde. | |
Eine Debatte über Risiken und Restrisiken ist überfällig. Zwar haben wir | |
das „Bundesinstitut für Risikobewertung“, das vor zehn Jahren nach dem | |
BSE-Skandal gegründet wurde, als sich wieder einmal ein deutsches | |
„Restrisiko“ realisiert hatte. Doch dieses Bundesinstitut ist nur für die | |
mit Lebensmitteln, Tabak, Textilien, Spielzeug und Ackergiften verbundenen | |
Risiken zuständig. Es interessiert sich dafür, ob Produkte uns schaden, | |
wenn wir sie anwenden. | |
Ob uns die Anlage um die Ohren fliegt, geht die staatlichen Fachleute | |
nichts an. Das prüft etwa der TÜV. Und hier hat sich seit Fukushima kaum | |
etwas geändert, sagt Frank Moltkau vom TÜV Rheinland. „Fukushima war für | |
uns ein nachgelagertes Thema“, bestätigt er. Ein paar Gedanken über | |
Erdbeben und Überflutungen, das schon. Aber eine Debatte über abstrakte | |
Restrisiken von Industrieanlagen? Moltkau schüttelt den Kopf. | |
## Selbst Greenpeace zettelte keine Risikodebatte an | |
Greenpeace denkt immerhin weiter. Nach Fukushima stellten die | |
Umweltschützer intern Kriterien für die Risikoanfälligkeit moderner | |
Technologien auf: Kann schon ein Fehler zur Katastrophe führen? Wie groß | |
ist der potenzielle Schaden, und wer haftet dafür? Gibt es Alternativen? | |
Das wenig überraschende Resultat: Die Umweltschützer finden, dass | |
Atomkraft, die grüne Gentechnik, das Ölbohren in der Tiefsee und die | |
unterirdische Speicherung von Kohlendioxid, kurz CCS, nicht zu verantworten | |
sind. | |
„Es gibt nicht für jedes Problem, das wir oft selbst geschaffen haben, eine | |
technische Lösung“, sagt Dirk Zimmermann, der sich bei Greenpeace mit | |
Risikotechnologien beschäftigt. Verantwortungsvoller Umgang mit | |
Technologien heiße, „Risiken abzuwägen, zu minimieren und eventuell | |
Technologien zurückzustellen, deren unerwünschte Auswirkungen ihren Nutzen | |
übersteigen könnten.“ | |
Aber: Eine breite öffentliche Diskussion zettelten die Umweltschützer zu | |
ihren Thesen nicht an – wegen der „Energiewende“ hatten sie genug zu tun. | |
Da sind sie nicht die Einzigen, die nach Fukushima diese Debatte versäumt | |
haben. „Fukushima war kein Wendepunkt in der Debatte über allgemeine | |
Risiken“, sagt Peter Wiedemann vom Institut für Technikfolgenabschätzung | |
und Systemanalyse in Karlsruhe. Zwar ergaben Umfragen, dass die Menschen | |
auch in anderen Ländern kritischer wurden, was Atomkraft angeht, aber nicht | |
in anderen Bereichen. „Die Chemieindustrie etwa ist aus der Diskussion | |
verschwunden.“ Gegen das Nuklearrisiko zu mobilisieren, sei relativ | |
einfach, sagt auch Armin Grunwald vom Büro für Technikfolgenabschätzung | |
beim Deutschen Bundestag. Individuelle Risiken seien statistisch zwar | |
großer, schienen aber beherrschbar, sagt er. Wer Ski fährt, vertraut auf | |
sein Können. Wer Strom bezieht, vertraut auf das Können der AKW-Arbeiter. | |
Sind wir zu ängstlich? Im Gegenteil: Was wir als Risiko wahrnehmen, ist oft | |
bereits eine Gefahr. „Risiko“ bedeutet, dass ein Schaden theoretisch in | |
Zukunft eintreten kann; eine Gefahr dagegen steht unmittelbar bevor: Ein | |
fahrendes Auto ist ein Risiko, ein Auto mit defekten Bremsen eine Gefahr. | |
Finanzkrise und Klimawandel erlauben uns nicht den Luxus, sie nur für | |
eingebildet zu halten. Die faulen Kredite und maroden Staatshaushalte waren | |
für Interessierte zu sehen, darauf wurde sogar gewettet. Was der | |
Klimawandel betrifft, sagen die Computerprogramme voraus, wie heiß es im | |
Jahr 2100 wird. Da bleibt kaum Raum für Zweifel. Oder für Hoffnung. | |
Deutschland wäre für eine Risikodebatte gerüstet. Wir haben ausreichend | |
Skrupel und genügend Ingenieursdenken für eine ausgewogene Diskussion. Wir | |
lieben den Konsens, pflegen aber auch unsere Wutbürger. Wir sind reich | |
genug, um auch mal eine Entwicklung als verfehlt zu beurteilen und ins | |
Technikmuseum zu schicken. Und wir haben jede Menge Sendezeit in Talkshows. | |
## Künstliches Leben – was ist mit diesen Risiken? | |
Welche Risikodebatte werden wir also demnächst führen? Nanotechnik, | |
Gentech, Stammzellen? Die Experten Wiedemann und Grunwald sind sich relativ | |
einig: Die „synthetische Biologie“ habe das Zeug dazu, wo Forscher | |
versuchen, künstliches Leben, etwa in Bakterien, zu erschaffen. | |
Lebensformen aus der Retorte, ein Menschheitstraum und ein | |
Milliarden-Dollar-Potenzial. Das könne „eine Debatte wie in den neunziger | |
Jahren um das Klonschaf Dolly“ auslösen, sagt Wiedemann, weil es die großen | |
Fragen von Leben und Verantwortung berührt und die Frage, wie weit | |
Wissenschaft gehen darf. | |
Wenn sie denn überhaupt weiß, was sie gerade tut. Die Bedrohung der | |
Ozonschicht durch die FCKW jedenfalls wurde nur durch eine Verkettung | |
glücklicher Umstände entschärft. Das Ozonloch, durch das eine hohe | |
Belastung mit ultravioletten Strahlen, Hautkrebs und Verluste in der | |
Landwirtschaft drohten, wurde nur durch Zufall entdeckt. Nur durch | |
Querdenker thematisiert. Und nur deswegen halbwegs geflickt, weil ein | |
billiger Ersatzstoff die FCKW ersetzt. | |
Das Ozonloch ist eine Fallstudie, wie sich ein Risiko plötzlich in eine | |
Gefahr verwandelt. Und ein Beispiel dafür, dass nicht immer schiefgehen | |
muss, was schiefgehen kann. Aber so viel Glück haben wir nicht immer. | |
9 Mar 2012 | |
## AUTOREN | |
Bernhard Pötter | |
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