# taz.de -- Ein Jahr nach Fukushima: „Ich bin Kanonenfutter“ | |
> Als die Erde bebte, war er mitten im Meiler. Ein Mitarbeiter erinnert | |
> sich an die Katastrophe von Fukushima. Noch heute ist er im AKW tätig. | |
Bild: Aus Angst, seinen Job zu verlieren, zeigt der AKW-Arbeiter nicht mehr als… | |
Kazuyoshi Sato, ein bekannter japanischer Atomkritiker, organisiert das | |
Treffen. Er muss drei Tage lang immer wieder telefonieren, damit die | |
Begegnung mit dem AKW-Arbeiter zustande kommt. Der nennt seinen Namen | |
nicht. Er darf nicht mit Journalisten sprechen. Denn würde er erkannt | |
werden, könnte er seinen Arbeitsplatz verlieren. | |
Es war für mich immer das Selbstverständlichste auf der Welt, im | |
Atomkraftwerk zu arbeiten. Wer in Toyota City lebt, arbeitet ja schließlich | |
auch für Toyota. So war das auch bei uns. Mein Heimatdorf Okuma liegt nur | |
vier Kilometer vom AKW-Standort Fukushima-Daiichi entfernt. Viele meiner | |
Verwandten und Freunde arbeiteten dort. | |
Der 11. März begann wie ein normaler Arbeitstag. Ich fuhr wie immer mit dem | |
Auto zum AKW-Gelände. Ich packte zum Mittag wie immer meine mitgebrachte | |
Picknickdose aus. Ich war an diesem Tag mit der Instandhaltung von | |
Maschinen beschäftigt – genauer kann ich das nicht sagen, um nicht | |
identifiziert zu werden. Plötzlich begann es, wie auf einem Schiff zu | |
schaukeln. Ich dachte: Mein Gott, ist das ein großes Beben! | |
## „Alles okay, dachte ich“ | |
Das Schaukeln hörte einfach nicht auf. Ich hörte eine Lautsprecheransage, | |
aber konnte nicht alles verstehen. Dann merkte ich, dass sich die Reaktoren | |
ausschalteten. Alles okay, dachte ich, die Notabschaltung funktioniert und | |
der Beton ist so dick, er wird halten. Aber ich wusste zugleich: Wenn jetzt | |
was einstürzt, bin ich ein toter Mann. Ich befand mich gerade im Gebäude | |
für radioaktiven Abfall, den wir verbrennen, dann füllen wir die Asche in | |
Fässer. | |
Plötzlich fiel der Strom aus und drinnen war alles dunkel. Es gab keine | |
Fenster. Aber nun hörte endlich das Schaukeln auf. Ich rannte zum | |
Gebäudeausgang und sah zum ersten Mal den enormen Schaden: Vor mir klafften | |
große Risse in der Erde, riesige Eisenrohre waren gebrochen, Maschinen | |
umgekippt. In dem Moment waren über 5.000 Mitarbeiter in Daiichi | |
beschäftigt, Hunderte von ihnen rannten über das Gelände zum Ausgang, bei | |
einigen herrschte offenbar Panik. | |
Aber nicht an meinen Arbeitsplatz: Wir stellten uns in einer ordentlichen | |
Reihe auf, um aus dem engsten Sicherheitsbereich auszuchecken und dann | |
unsere Sicherheitskleidung gegen die normalen Firmenanzüge auszutauschen. | |
Ich bin heute noch stolz auf die Ordnung, die wir in der Notfallsituation | |
eingehalten haben. So ging alles viel schneller. Dann kam die Ansage: Nr. | |
10 der Katastrophenmaßnahmen sei in Kraft getreten. Ich wusste nicht, was | |
das bedeutet – und bekam das erste Mal Angst. Ein Vorgesetzter sagte mir: | |
Die Atomreaktoren seien sicher. Das beruhigte mich wieder. | |
Inzwischen hat sich der Arbeiter etwas warm geredet. Wir befinden uns in | |
einer kleinen, alten Herberge mit heißem Quellenbad in einem Kurort unweit | |
des Atomunglücksortes. Er ist ein junger Mann, der seine tief ins Gesucht | |
gezogene Filzmütze und seine Sonnenbrille auch beim Gespräch nicht abnimmt. | |
Bei der Ankunft war er hastig aus dem Taxi gesprungen, hatte grußlos den | |
Empfangsraum der Herberge durchquert und war schnell die Treppen | |
emporgeeilt. Doch nun hat er es sich bequem gemacht, Tee eingeschenkt und | |
die Beine auf dem niedrigen Tisch ausgestreckt. | |
## Der Anfang eines Alptraums | |
Ich fuhr nach Hause, dort schien alles in Ordnung, nur der Strom war aus. | |
Ich ahnte nicht, dass es nur der Anfang eines Alptraums war. Am nächsten | |
Morgen wurden wir in eine Sporthalle evakuiert, später dann mit Bussen in | |
eine Halle in vierzig Kilometer Entfernung gebracht. Ich hatte noch nie in | |
meinem Leben so viele Busse gesehen. Jetzt aber wusste ich: Im | |
Atomkraftwerk musste etwas Schreckliches passiert sein. Ich dachte, meinem | |
Dorf würde es wie Tschernobyl ergehen. Ich war mir plötzlich sicher: Dies | |
ist der größte anzunehmende Unfall. | |
Der Arbeiter zeigt eine Visitenkarte vom New Yorker. Seine Geschichte | |
anonym Journalisten zu erzählen, ist zu seiner zweiten Lebensaufgabe | |
geworden. Es zeigt auch, wie die Medien auf die wenigen direkten Quellen | |
angewiesen sind. | |
Zwei Wochen nach dem Unfall begann ich wieder zu arbeiten. Ich fühlte mich | |
verantwortlich. Ich musste diejenigen ablösen, die dort schon wieder | |
arbeiteten. Eigentlich sind die Arbeitsbedingungen im Atomkraftwerk nicht | |
schlecht. Man muss nur das komplizierte Zusammenspiel der Firmen vor Ort | |
verstehen. Sie sind in sehr klaren Machtverhältnissen hierarchisch | |
geordnet. Nach der Katastrophe brachten große Firmen Obdachlose aus Tokio | |
und Osaka auf das Atomgelände, um sie die Drecksarbeit verrichten zu | |
lassen: Ruinen und Schrott abtragen. Sie alle hatten noch nie in einem | |
Atomkraftwerk gearbeitet. | |
Ich sah auch viele Mitglieder der Yakuza-Mafia, zumindest standen sie als | |
Vermittler der Obdachlosen herum und überwachten sie. Schon vor vierzig | |
Jahren beim Bau der Reaktoren waren die Yakuza dabei und hatten das Gelände | |
seither nie verlassen. Diese Obdachlosen, die ohne Maske und Dosimeter | |
arbeiteten, wurden als Helden gefeiert, weil sie sich in diese Gefahr | |
begaben. | |
Uns ergeht es wie in Kriegszeiten, dachte ich. Ich musste eben mein Leben | |
riskieren. Aber dennoch versuchte ich, sehr vorsichtig zu sein. Schließlich | |
ist mein Dosimeter doch von Panasonic, das sind die besten der Welt. Meine | |
Arbeit war, den Strom wiederherzustellen. Aber nun arbeitete ich unter | |
furchtbaren Bedingungen, inmitten der Zerstörungen. | |
## „Ich habe etwas getan, worauf ich stolz sein kann“ | |
Oft zeigte mein Dosimeter über 500 Millisievert an, das Doppelte des | |
zugelassenen Höchstwertes. Im Reaktor waren es 10.000 Millisievert, sagte | |
man mir. Zudem machten die großen Firmen, vor allem die Leute von Tepco, | |
weiter wie immer. Sie benahmen sich, als seien sie immer noch die Größten, | |
wie Könige. Die Katastrophe hatte ihr Bewusstsein nicht verändert. Das | |
ärgerte mich wirklich. | |
Trotzdem denke ich heute, dass ich etwas getan habe, worauf ich die | |
nächsten fünfzig Jahre stolz sein kann. Natürlich wird der wirkliche | |
Schrecken erst später kommen. Viele von uns Arbeitern werden an Krebs | |
sterben. Niemand wird dann Entschädigung zahlen. Und wenn ich unter den | |
Toten bin, ergeht es mir eben wie den Kamikaze-Piloten im Zweiten | |
Weltkrieg: Ich bin Kanonenfutter, ich werde sehenden Auges in den Tod | |
geschickt. | |
11 Mar 2012 | |
## AUTOREN | |
Georg Blume | |
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