# taz.de -- Prozess gegen somalische Piraten: Überfall in Flipflops | |
> In Hamburg stehen 10 Somalier vor Gericht, die im April 2010 ein | |
> deutsches Containerschiff gekapert haben. Kritiker sprechen von | |
> „Kolonialjustiz“. | |
Bild: Anwälte finden es nicht legitim, Somaliern in Deutschland den Prozess zu… | |
HAMBURG taz | Khalif Didier erhebt seine Stimme nicht. Selbst als der | |
Richter ihn fragt, ob es wahr sei, dass der Spitzname seines Vaters „die | |
laufende Lüge“ war, bleibt er ruhig. | |
Es ist der 83. Verhandlungstag im Piratenprozess vor dem Hamburger | |
Landgericht, und Didier, 29 Jahre, anthrazitfarbenes Sakko, auf dem Kopf | |
riesige Kopfhörer für die Übersetzung, sitzt in der dritten Reihe der | |
Angeklagten und kämpft um seine Glaubwürdigkeit. „So nennt niemand meinen | |
Vater“, sagt er. Und auch er selbst sage die Wahrheit. | |
Darum geht es an diesem Tag, denn Didier hat sich selbst zu einer Art | |
Kronzeugen im Verfahren gegen seine Mitangeklagten gemacht. Zehn Männer, | |
die am 5. April 2010 etwa 500 Seemeilen vor der Küste Somalias das | |
Containerschiff „Taipan“ kaperten. Barfuß oder mit Flip-Flops, in kurzen | |
Hosen – das zeigen Videoaufnahmen – mit Enterhaken und Panzerfäusten | |
überfielen die ehemaligen Fischer das Schiff auf seinem Weg von Dschibuti | |
nach Mombasa. Die 13 Seeleute, darunter zwei Deutsche, blieben unverletzt. | |
„Ich hatte keine Furcht“, sagte der Kapitän der „Taipan“, Dierk Eggers, | |
später vor Gericht, als sich die Somalier bei ihm entschuldigen. | |
Schon nach vier Stunden überwältigt ein niederländisches Kommando der | |
EU-Antipirateriemission Atalanta die Piraten. Die Niederlande liefern sie | |
nach Hamburg, dem Sitz der „Taipan“-Reederei Komrowski, aus. Im Oktober | |
2010 klagt der Oberstaatsanwalt Wilhelm Möllers sie wegen Angriffs auf den | |
Seeverkehr an, nur 33 Seiten umfasst die Anklageschrift. „Überschaubar und | |
gut eingrenzbar“ sei der Sachverhalt, sagt Möllers damals. | |
Fünf Wochen später beginnt der erste Prozess wegen Piraterie in Deutschland | |
seit Jahrhunderten. Zwanzig Verteidiger werden bestellt. Zu Beginn bittet | |
einer der Somalis das Gericht darum, „nicht gefoltert“ und „zügig | |
hingerichtet“ zu werden. | |
## Verworrene Fakten | |
Heute ist von der Einschätzung Möllers nichts geblieben. Die Faktenlage ist | |
verworren. Die Angeklagten sollen zwischen 19 und 50 Jahre alt sein, das | |
Gericht hat ihre Altersangaben teils mit umstrittenen Gutachten von | |
Gerichtsmedizinern nach oben korrigiert. Lange schweigen sie, 2011 legen | |
einige der Angeklagten dann Teilgeständnisse ab. | |
Einer sagte, er habe Lösegeld für seinen entführten Sohn beschaffen müssen. | |
Ein anderer erklärte, der Fischfang habe nicht mehr zum Leben gereicht, nur | |
deshalb habe er sich beteiligt. Ein dritter sagte, mit Waffengewalt zum | |
Überfall gezwungen worden zu sein. Fünf Männer hätten ihn niedergeknüppelt | |
und mit Erschießung gedroht. Weitere Angeklagte äußern sich ähnlich. Die | |
Hintergründe des Überfalls aber bleiben unklar. | |
Anwälte und Prozessbeobachter bezweifeln, dass es legitim ist, die Männer | |
aus einem Land, in dem es kaum Gesetze und kaum einen Staat, dafür aber | |
unfassbares Elend gibt, in Deutschland abzuurteilen. Von „Kolonialjustiz“ | |
spricht eine Hamburger Unterstützergruppe der Somalier. Schließlich haben | |
ausländische Fischflotten die Gesetzlosigkeit in der Region ausgenutzt, um | |
den Golf von Aden rücksichtslos auszubeuten. Das „Weltrechtsprinzip“ will | |
hingegen das Gericht anwenden: „Angriffe auf den Seeverkehr“ könnten von | |
jedem Land der Welt abgeurteilt werden. Und die meisten der vor Somalia | |
entführten Schiffe gehören Reedereien aus Deutschland. | |
Als die Beweisaufnahme im Januar am Ende schien, fordert die | |
Staatsanwaltschaft wegen der „hoch professionellen, quasi militärischen“ | |
Vorgehensweise vier bis elfeinhalb Jahre Haft. „Die blenden komplett aus, | |
dass die Taten aus absolutem Elend heraus begangen wurden“, sagte der | |
Anwalt Manfred Getzmann. Sein Kollege Philipp Napp bemängelte, dass das | |
Gericht sich weigert, afrikanische Sachverständige zuzulassen, die ein Bild | |
von den „apokalyptischen Zuständen“ in Somalia vermitteln könnten. | |
Dafür machte Khalif Didier am 29. Februar für alle Beteiligten überraschend | |
eine Aussage. Es ist der Wendepunkt des Prozesses. Vierzig Minuten lang | |
erklärt er, warum die anderen Angeklagten dem Gericht „nur Märchen erzählt… | |
hätten: Niemand sei zu dem Überfall gezwungen worden, sie alle hätten dies | |
„vollkommen frei“ getan. Er selbst allerdings nur „als Dolmetscher“. | |
## „Ziemlich frech“ | |
„Seitdem versucht jeder nur noch, seine Haut zu retten“, sagt Mukthaar | |
Sheekh Cali. Er ist Übersetzer im Prozess, 1995 floh er selbst aus Somalia. | |
Dass viele Deutsche sagen, den Piraten gehe es in einem deutschen Knast | |
doch besser als zu Hause, findet er „ziemlich frech“. Freiheit sei „ein | |
hohes Gut“, die Angeklagten seien in Haft psychisch krank geworden. „Sie | |
haben große Sehnsucht nach ihren Familien.“ Am Anfang seien die Angeklagten | |
fast ein Jahr getrennt untergebracht gewesen. „Mittlerweile haben sie | |
angefangen, das System zu verstehen und ihre Rechte zu verlangen.“ Unter | |
anderem wollten sie im Gefängnis arbeiten, um die Telefonate zu Verwandten | |
in Somalia zu bezahlen. | |
Im April entlässt das Gericht die drei heranwachsenden Angeklagten aus der | |
U-Haft. Sie leben jetzt in einer Jugendwohnung. Die übrigen gehen gegen | |
Didier in die Offensive: Er sei der Anführer gewesen, erklären sie. Seine | |
Familie habe den Überfall organisiert und die Waffen besorgt. All dies hält | |
der Richter ihm heute vor. | |
„Sie haben die anderen Angeklagten schwer belastet. Und es gibt viele | |
Rätsel in ihren Aussagen.“ Der andere Name etwa, unter dem auch die | |
Holländer Didier führten, die Widersprüche bei der Stammeszugehörigkeit. | |
Die Hinweise auf Aufenthalte in Sambia, obwohl er behauptet, Somalia nie | |
verlassen zu haben. Die Gerüchte über eine Festnahme bei der Attacke auf | |
ein griechisches Schiff. Didier weist alles zurück. Die Lügner, das seien | |
die anderen, sagt er. | |
Nach zwei Stunden bricht der Richter die Vernehmung ab. Ein | |
Fingerabdruckvergleich soll jetzt klären, ob Didier tatsächlich schon zuvor | |
ein anderes Schiff überfallen hat. Bis zum Sommer sind weitere | |
Verhandlungstermine angesetzt. | |
10 May 2012 | |
## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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