# taz.de -- Kolumne Cannes Cannes: Ein tief gespaltenes Land | |
> In Andrew Dominiks „Killing Them Softly“ und John Hillcoats „Lawless“ | |
> dient Gewalt als dramaturgisches Mittel um einen schonungslosen Blick auf | |
> Amerika zu zeigen. | |
Bild: Brad Pitt hat lange Haare und sowas wie Coolness – nicht, dass das jetz… | |
„Amerika ist kein Land“, sagt der Gangster Jackie am Ende von „Killing Th… | |
Softly“, „Amerika ist ein verdammtes Geschäft“. Zu dem Zeitpunkt hat auch | |
der Langsamste begriffen, worauf Andrew Dominiks Wettbewerbsbeitrag | |
hinauswill: auf einen schonungslosen Blick auf die USA. In der Nacht, in | |
der der Film endet, verkündet Obama seinen Sieg über John McCain, auf der | |
Straße wird gefeiert, aber die Hauptfiguren des Films lassen sich von der | |
Euphorie nicht beeindrucken. Am Tresen einer Kneipe verhandelt Jackie, was | |
er für einen Auftragsmord erhält, während Obama im Fernsehen von | |
„Demokratie, Freiheit und Hoffnung“ spricht. „10.000 Dollar“, sagt der | |
Mittelsmann, „das ist der Rezessionspreis.“ Jackie beharrt auf 15.000 | |
Dollar, und er bekommt das Geld, vermutlich, weil er von Brad Pitt gespielt | |
wird und als einziger in „Killing Them Softly“ so etwas wie Coolness hat. | |
Je deutlicher der Film ausspricht, dass Amerika am Boden liegt, umso mehr | |
Kredit verspielt er. Dominik vertraut nicht darauf, dass sein Publikum | |
Subtexte lesen kann. Gleich in den ersten Szenen zerstückelt er auf der | |
Tonspur eine dieser zukunftstrunkenen, mitreißenden Reden von Obama, so | |
dass man ein seltsames Stakkato hört, während man Bilder eines einsamen | |
Mannes sieht, der durch eine öde Stadtlandschaft wandert. Der Thrillerplot | |
fällt angenehm schlicht aus. Eine Spielhalle wird zweimal überfallen, beim | |
ersten Mall steckt der Betreiber selbst dahinter, beim zweiten Mal ein Trio | |
von Losern, die fortan fürchten müssen, dass die Schergen des | |
Spielhallenkartells sie töten. Wenn ihr Coup nicht von vornherein | |
schiefgeht, so hat das einzig damit zu tun, dass keiner der Gangster, | |
Killer und Mittelsmänner auf der Höhe seiner Kräfte ist. Wo das ganze Land | |
in der Krise steckt, schwächelt auch das organisierte Verbrechen. | |
Eher ambivalent gerät der Gastauftritt von James Gandolfini als Killer, der | |
sich nicht im Griff hat. Wenn er sich zum ersten Mal mit Jackie trifft, | |
trinkt er innerhalb weniger Minuten drei Martini und zwei Bier, und die | |
Prostituierte, die er sich aufs Hotelzimmer kommen lässt, beschimpft er | |
rüde, bevor er endlos über Analsex schwadroniert. Ambivalent ist das, weil | |
man sich zwar einerseits freut, Gandolfini wiederzusehen, andererseits | |
schiebt sich Tony Soprano vor die Figur, ohne das man etwas dagegen tun | |
könnte. | |
Auch ein weiterer amerikanischer Wettbewerbsbeitrag, „Lawless“ von John | |
Hillcoat, hat wenig Fortune. Ein period piece aus Prohibitionszeiten, im | |
Mittelpunkt stehen drei Brüder, die im Hinterland von Virginia Schnaps | |
brennen. Ihnen in die Quere kommt ein comichaft überzeichneter Agent, | |
dessen Sadismus dem Film brutale Szenen beschert. Je mehr Gewaltszenen der | |
Film hat, umso schaler wird er und umso mehr sehnt man sich nach einer | |
dialektischen Wendung. Doch das Script, das von Nick Cave stammt, hält | |
unbarmherzig daran fest, dass die drei Brüder die Guten sind und der aasige | |
Agent der Böse ist. | |
Bei Dominik sind die Gewaltszenen viel stärker ästhetisiert als bei | |
Hillcoat, in Zeitlupe sieht man Close-ups von aus dem Pistolenlauf | |
austretenden Kugeln, man sieht splitternde Autoscheiben, durch die Luft | |
fliegendes Glas, Regentropfen, Blut. Bei der Pressekonferenz sagt der | |
Regisseur: „Ich mag Gewalt in Filmen. Filme sind Dramen, und Gewalt ist | |
eine der pointiertesten Formen von Drama.“ Dominik trägt die Haare | |
schulterlang, genauso wie der neben ihm sitzende Brad Pitt. Der antwortet | |
auf die Frage, ob seine Sicht auf Amerika der seiner Filmfigur ähnele: „ | |
Das Land ist tief gespalten.“ Aber Amerika habe viel mehr Facetten, als | |
Jackie wahrzunehmen in der Lage ist. | |
22 May 2012 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
## TAGS | |
Film noir | |
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