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# taz.de -- Kolumne Cannes Cannes: 13-mal dieselbe Szene
> Ein Film, der volle Konzentration benötigt: Alain Resnais verwirrt in
> „Vous n'avez encore rien vu“ mit Spiegelungen und Variationen.
Bild: „Ihr werdet euch noch wundern“ – dafür sorgt Alain Resnais.
Als ich am Montagmorgen um kurz vor acht zum Grand Théâtre Lumière eile, um
den ersten Film des Tages zu gucken, begegne ich einem fröhliche Grüppchen
in Abendrobe, von dem noch niemand zu Bett gegangen ist.
Einer der Männer steckt sein Gesicht durch die Lücke im Kopf einer
Superman-Pappfigur und lässt sich fotografieren, alle wirken verpeilt,
zerzaust von der regnerischen Nacht und bester Dinge, und ich,
pflichtbewusst auf dem Weg ins Kino, werde ein bisschen eifersüchtig auf
diese lustige Verstrahltheit.
Für den Film, der mich erwartet, ist mein nüchterner Zustand gut, denn es
braucht volle Konzentration. Alain Resnais hat in seinen Wettbewerbsbeitrag
„Vous n’avez encore rien vu“ (der deutsche Verleihtitel lautet „Ihr wer…
euch noch wundern“) so viele Spiegelungen und Verfremdungseffekte
eingebaut, dass einem schwindelig werden kann.
Mit einer sich etwa 13-mal wiederholenden Szene geht es los: Ein
Schauspieler, eine Schauspielerin, von hinten über die Schulter gefilmt,
erhält einen Anruf: „Spreche ich mit Mathieu Amalric?“ – „Ja.“ – �…
Sabine Azéma“ – „Ja.“ – „Mit Michel Piccoli?“ - „Ja.“ Etc. J…
überbringt der Mann am anderen Ende der Leitung dieselbe schlechte
Nachricht: Ein enger Freund namens Antoine d’Anthac sei verstorben und habe
in seinem Testament verfügt, der oder die Angerufene möge sich auf
d’Anthacs Chateau in der Provence einfinden.
Dieses Chateau ist eine Kulisse, die aus ihrer Künstlichkeit keinen Hehl
macht. Ein Butler fordert die im Hauptsaal versammelten Gäste auf, sich
einen Film anzusehen, Aufnahmen von Proben zu einer Inszenierung von Jean
Anouilhs Stück „Eurydice“. Die Schauspieler im Saal beginnen ohne
Umschweife, die Szenen, die sie auf dem Screen sehen, zu kapern, denn sie
haben, wie man bald erfährt, einst unter d’Anthacs Regie im selben Stück
gespielt. Sabine Azéma und Anne Consigny geben Eurydice, Pierre Arditi und
Lambert Wilson Orphée.
## Liebe als uraltes Skript
Resnais bringt das herkömmliche Verhältnis von Schauspieler und Rolle
durcheinander, zum einen weil die Schauspieler unter ihren echten Namen
auftreten und trotzdem eine Rolle in einer überaus theatralischen Anordnung
spielen, zum anderen weil es die Hauptfiguren in drei Ausfertigungen gibt.
Manchmal agieren Wilson und Cosigny miteinander, im nächsten Augenblick
übernehmen Arditi und Azéma den Dialog, manchmal begegnen sich alle vier
via Splitscreen.
„Ihr werdet euch noch wundern“ ist Repetition und Variation: eine Variation
von Anouilhs 1941 geschriebenem Theaterstück, das wiederum die griechische
Mythologie und deren zahlreiche Neuinterpretationen (in der Dichtung, der
Oper, im Theater, im Kino) bearbeitet. Und die Liebe, die Eurydice und
Orphée so neu und frisch für sich zu entdecken glauben, was ist sie anderes
als die Wiederaufführung eines uralten Skripts?
Man lernt sich kennen, verfällt einander, gewöhnt sich aneinander, schaut
zu, wie die Leidenschaft abkühlt, vielleicht betrügt man sich, und
irgendwann ist man zu zweit allein. Die beiden Helden bei Anouilh und
Resnais tun alles, um diesem Skript nicht zu folgen, aber auch für sie geht
es bekanntlich nicht gut aus.
Eine kleine Pointe am Rande ist, dass Resnais nicht der einzige Filmemacher
im diesjährigen Wettbewerb ist, der das Motiv des Wiederholens und
Variierens durchspielt. Der koreanische Regisseur Hong Sangsoo unternimmt
in dem Fim „In Another Country“ etwas Ähnliches, indem er Isabelle Huppert
dreimal hintereinander Urlaub an einem südkoreanischen Strand machen lässt.
Jedes Mal heißt ihre Figur Anne, jedes Mal ist sie eine andere, selbst wenn
sie sich nur in Details von ihrer Vorgängerin unterscheidet. Zum Beispiel
in der Art und Weise, wie sie Soju trinkt und ihre Trunkenheit ausagiert.
21 May 2012
## AUTOREN
Cristina Nord
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