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# taz.de -- Kolumne Cannes Cannes: Bildwitz und zarte Verschrobenheit
> Ein Foxterrier, der unverdient früh stirbt und Bill Murrays dicker Bauch:
> „Moonrise Kingdom“, der neue Film von Wes Anderson, erzählt von tief
> sitzenden Versehrungen.
Bild: Sam und seine Gefährtin Suzy reißen aus, sie aus ihrer mild dysfunktion…
Es braucht nur 15 Minuten Bootsfahrt, und man gelangt in eine andere Welt.
Wenige Kilometer vor der Küste von Cannes liegen die Îles des Lérins, und
wer einen Nachmittag in einer felsigen Bucht auf Sainte Marguerite
verbringt, einer einstigen Gefängnisinsel, wo der geheimnisumwobene Mann
mit der Eisernen Maske am Ende des 17. Jahrhunderts eingesessen haben soll,
der wird von einer nostalgischen Côte-d’Azur-Gefühl angeweht.
In Cannes mit seiner 70er-Jahre-Kongressarchitektur, seinem an einen
Campingplatz erinnernden Yachthafen und seinen Touristenfallen sucht man
danach vergeblich. Doch auf Sainte Marguerite blickt man auf türkisfarbenes
Wasser, findet Seeigel, liegt im Schatten von Pinien und freut sich am gelb
blühenden Ginster.
Und auch wenn Wes Andersons „Moonrise Kingdom“, der Eröffnungsfilm des
Festivals, auf einer ganz anderen Insel und in der raueren Natur
Neuenglands spielt, ist der Ausflug nach Sainte Marguerite eine schöne
Vorbereitung. Beinahe möchte man es den jungen Helden gleichtun und den
Schriftzug „Moonrise Kingdom“ mit hellen Kieseln auf den Boden der Bucht
schreiben oder sich einen der glatten Steine in den Mund stecken.
Denn „wenn man sehr durstig ist“, sagt Sam, der neunmalkluge Pfadfinder und
einer der beiden Hauptfiguren (Jared Gilman), in einer Szene, „lutscht man
am besten an einem feuchten Kiesel.“
Auch die Nostalgie passt gut. „Moonrise Kingdom“ spielt im Jahr 1965, wie
eine Art Insel-Ciccerone am Anfang mit direktem Blick in die Kamera
erklärt, und Wes Anderson bringt das Zeitkolorit mit der ihm eigenen
Exzentrik zur Geltung. Bei der Pressekonferenz zum Film sagt der Regisseur
über seine beiden jungen Helden: „1965 sind sie 12 Jahre alt. Das heißt:
Wenn sie 18 werden, werden sie in einem komplett veränderten Amerika
leben.“
## Motive aus Kinder- und Abenteuerbüchern
Sam und seine Gefährtin Suzy (Kara Hayward) reißen aus, sie aus ihrer mild
dysfunktionalen Familie, er aus dem Pfadfinderlager, verlieben sich und
streunen über das fiktive Eiland namens New Penzance. Sie hat bei ihren
Eltern eine Broschüre gefunden: „Coping with the very troubled child“,
deren Inhalte sie auf sich bezieht und sich dementsprechend verraten fühlt;
er ist Waise, und seine Pflegeeltern kündigen ihren Dienst auf, kaum
benachrichtigt sie der lokale, etwas trottelige Polizist (Bruce Willis) von
Sams Verschwinden.
Anderson ruft viele Motive aus Kinder- und Abenteuerbüchern auf, nutzt
zeitgenössische und weniger zeitgenösssiche Musik (Benjamin Britten spielt
eine große Rolle), an Film- und sogar an Bibelzitaten herrscht kein Mangel.
Ein Foxterrier, der unverdient früh stirbt, sieht aus wie Struppi aus den
Comics von Hergé, sein Name aber lautet Snoopy, und damit ist in etwa
umrissen, wie der Regisseur mit den Reminiszenzen und Zitaten verfährt:
Nachdem er etwas hat anklingen lassen, nimmt er es auseinander, setzt es
neu zusammen oder verschiebt es in andere, unerwartete Richtungen.
Die Erwachsenen rauchen ohne Unterlass, Bill Murray spielt Suzys Vater, er
hält seinen dicken Bauch in die Kamera, bevor er, um seine Wut zu lindern,
im Garten einen Baum fällt. Frances McDormand gibt Suzys Mutter; mit ihrem
Mann und ihren Kindern spricht sie oft via Megaphon. Die Idee dazu stamme
von dem Co-Drehbuchautor Roman Coppola, sagt Anderson, und man kommt in
diesem Augenblick der Pressekonferenz nicht umhin zu denken, dass es sicher
nicht immer ein Spaß war, der Sohn von Francis Ford Coppola zu sein.
Tilda Swintons Figur heißt einfach nur „social services“, Jugendamt, und
genau das ist sie: eine in der Wolle gefärbte Bürokratin. Mit ihr kommt das
Unheil, das vorher von Bildwitz und zarter Verschrobenheit gerade noch
verdeckt war, zum Vorschein, und der Film erzählt von so tief sitzenden
Versehrungen, dass es eine Sturmflut, einen Blitzschlag und einen, so Bill
Murray, „Die-Hard-Augenblick“ für Bruce Willis braucht, um noch größeres
Unheil abzuwehren.
Gegen Ende der Pressekonferenz antwortet Anderson auf die Frage, in welcher
der Figuren er sich am ehesten wiedererkenne: „in Suzy“. Und sagt dann:
„Ich habe die Broschüre“ – gemeint ist „Coping with a very troubled ch…
– „bei uns zuhause auf dem Kühlschrank gefunden. Ich war zwar nicht das
einzige Kind im Haus, aber ich wusste, das galt mir.“
## „Moonrise Kingdom“ startet am 24. 5. in Deutschland.
16 May 2012
## AUTOREN
Cristina Nord
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