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# taz.de -- Kolumne Cannes Cannes: Torfig oder rauchig
> Mein Bruder, der Junkie: Vier Filme über Heranwachsende und die gemeine
> Welt – in der es nicht schaden kann, sich mit Whisky auszukennen.
Bild: Szene aus „The Angels’ Share“
Junge Menschen haben’s schwer. Das legen mehrere Filme nahe, die, an
unterschiedlichen Orten der Welt entstanden, von Heranwachsenden handeln.
Den eingängigsten Film zum Thema stellt Ken Loach vor: Sein
Wettbewerbsbeitrag „The Angels’ Share“ erzählt von einem jungen Mann nam…
Robbie (Paul Bannigan); er lebt in Glasgow, war mehrmals im Knast und wird
in den ersten Szenen wegen Körperverletzung zu 300 Stunden Sozialarbeit
verurteilt. Seine Freundin erwartet ein Kind von ihm, ihr Vater ist gegen
die Verbindung, ihre Cousins verprügeln ihn.
Schlecht sieht es also aus für Robbie – bis er ein verborgenes Talent
entdeckt. Seine Nase, sein Zunge und sein Gaumen sind so sensibel, dass er
als Whisky-Experte eine gute Figur macht. Gleich ob Vanille- oder
Honignoten, torfig oder rauchig, Leder oder Holz: Robbie kennt sich aus,
und was er noch nicht weiß, das bringt er sich durch das eifrige Studium
von Handbüchern selbst bei. „The Angels’ Share“ schlägt sich als
Feel-good-Movie so wacker wie sein Held, ließe sich aber auch als
überlanger Werbespot für Whisky aus Schottland verkaufen.
Schwerer geben sich ein bosnischer und ein kolumbianischer Film, beide in
der Nebenreihe „Un certain régard“. In Sarajewo siedelt die 1976 geborene
Regisseurin Aida Begic ihren Film „Djeca“ an, es geht darin um Rahima
(Marija Pikic), eine gläubige Muslimin, deren Eltern im Krieg umgekommen
sind. Mehr schlecht als recht sorgt sie für ihren jüngeren Bruder, der in
der Schule gemobbt wird. Leider schafft es der Film nicht, die Ambivalenz,
die in der Hauptfigur angedeutet wird, auszuführen. Das Fürsorgliche,
Sanfte und Selbstlose stoßen jäh auf eine überraschende Aggressivität, die
letztlich skizzenhaft bleibt. Der Druck, der auf Rahima lastet, ist groß –
und eines der Mittel, das zu verdeutlichen, ist die Hast, mit der sie jede
Bewegung ausführt, eingefangen in hastigen Bildern. Oft schaut die Kamera
von hinten auf Schulter und Kopf der Davoneilenden, eine inzwischen fast
zur Chiffre geronnene Perspektive: Pressierte aller Länder, rennt der
Kamera davon!
Auch in Bogotá kommt sie zum Einsatz. Der Regisseur Juan Andrés Arango
heftet sich in „La Playa D.C.“ an den Rücken von Tomás (Luis Carlos
Guevara), einem jungen Afrokolumbianer aus armen Verhältnissen, der
versucht, sich um seinen jüngeren, drogensüchtigen Bruder Jairo zu kümmern.
Einiges in diesem Debüt wirkt unbeholfen, dennoch hat der Film seinen Reiz.
Er wendet sich mit Liebe zum Detail der afrokolumbianischen Alltagskultur
zu, der Musik, den Dresscodes und vor allem der Frisierkunst. Gleich ob ein
Containerschiff, ein Fisch, ob florale oder streng geometrische Muster:
Kein Motiv ist zu abwegig, als dass es nicht mit Rasiergerät und -klinge im
kurzgeschorenen Haar der jungen Männer entstehen könnte.
Aus Kasachstan schließlich kommt „Student“ (ebenfalls „Un certain régar…
eine freie Adaption von Dostojewskis „Verbrechen und Strafe“, Regie führte
Darezhan Omirbayev. Das Gesicht der Hauptfigur, eines Studenten, der in
einer Kellerwohnung in Almaty haust, ist wie versteinert; die Bilder sind
minimalistisch, was man nicht sieht, ist ebenso von Belang wie das, was im
Bildkader vor sich geht. Omirbayev pflegt einen lakonischen Witz, den er
nicht auf Kosten der Figuren gehen lässt. Einmal schaut der Protagonist im
Fernsehen eine Tierdokumentation, ein Rudel Löwen greift eine Giraffe an,
die tritt aus, buckelt, schüttelt die Angreifer mit Mühe ab, aber lange
wird sie nicht mehr standhalten. Sozialdarwinismus scheint die Losung der
Stunde in der ehemaligen Sowjetrepublik. Das Schöne an „Student“ ist, dass
er dabei nicht mitmacht.
24 May 2012
## AUTOREN
Cristina Nord
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