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# taz.de -- Kolumne Cannes Cannes: Auf der letzten Reise
> Passend zum kühlen Wochenende an der Croisette: Michael Haneke frappiert
> mit seinem dichten Film „Amour“. Darin sind die Menschen den Kräften der
> Natur ausgeliefert.
Bild: Wie die Landschaft in Hanekes „Amour“: Wolken über der Croisette.
Das Wochenende an der Croisette kühl, der Wind zaust die Palmkronen, die
Wolken hängen dicht und erinnern an die Wolken auf den
Landschaftsmalereien, die sich die Kamera in Michael Hanekes
Wettbewerbsbeitrag „Amour“ aus der Nähe anschaut. Die Ölbilder von
Stränden, dramatischen Himmeln und den Kräften der Natur ausgelieferten
Menschen schmücken die Wohnung von Georges (Jean-Louis Trintignant) und
Anne (Emmanuelle Riva).
Es ist eine bürgerliche Wohnung irgendwo in Paris, drei große, helle
Zimmer, ein Flügel, Bücherregale und eben die Bilder. Nach der Hälfte des
Films kennt man die Wohnung so gut, dass man den Weg zur Toilette blind
finden würde.
Alles an diesem Film ist dicht und nuancenreich. Georges und Anne sind ein
altes Paar; seine Routinen geraten aus den Fugen, nachdem Anne eines
Morgens am Frühstückstisch für zwei, drei Minuten auf Georges’ Ansprache
nicht reagiert hat; ein leichter Schlaganfall, wie sich herausstellt;
später folgt ein weiterer.
## Die Verschlimmerung des Zustands
Trintignant und Riva machen ihre Sache überaus überzeugend; allein wie Riva
die Verschlimmerung ihres Zustands darstellt, von der leichten Lähmung
ihrer rechten Körperhälfte über die Bettlägrigkeit bis zum weitgehenden
Verlust ihrer kognitiven Fähigkeiten, ist frappierend. Haneke schaut auf
den Alltag der beiden, man sieht, wie Georges seiner Frau gut zuredet,
nachdem sie eines Nachts ins Bett gemacht hat, später, wie eine
Krankenschwester dem im Off stehenden Georges das Wechseln der Windel
erläutert und auch, wie er Anne mit einer Schnabeltasse Wasser einzuflößen
versucht. Sie wehrt sich, er redet auf sie ein, wird immer ungeduldiger,
schließlich ohrfeigt er sie.
Wenn die Kamera an den Bücherwänden der Wohnung entlangfährt oder am Flügel
verharrt, hat man den Eindruck, es gebe Ausflüchte aus diesem
Eingesperrtsein in den schwach werdenden Körper: die Versenkung in ein
Buch, der Blick auf die Landschaftsmalereien, die Musik oder eine
Geschichte aus Kindertagen, die Georges am Krankenbett erzählt. Der Trost
durch Kunst und Fiktion mag flüchtig sein, doch ohne ihn wäre es noch viel
schlimmer. „Amour“ hallt lange nach, weil er uns mit unserer eigenen
Sterblichkeit und der von Angehörigen und Freunden in Berührung treten
lässt; zugleich ist der Film selbst wie ein Gefährte für diese schwierige,
letzte Reise.
Der Zufall will es, dass mit „La noche de enfrente“ (in etwa: „Die Nacht
von gegenüber“) ein Film auf dem Programm der Quinzaine des Réalisateurs
steht, der auch von einer solchen letzten Reise erzählt: Der
chilenisch-französische Regisseur Rañl Ruiz lässt seinen Protagonisten Don
Celso (Sergio Hernandez) im chilenischen Antofagasta vom Leben in den Tod
herüberwandern. „La noche de enfrente“ ist idiosynkratischer als „Amour�…
er mäandert, macht grobe und feine Witze, lässt seine Figuren Gedichte
rezitieren oder Séancen abhalten; einmal stapft ein Wiedergänger Beethovens
vorbei, kurz, Ruiz’ Film ist verschroben, ein Gefährte und Freund ist er
nichtsdestoweniger.
Rañl Ruiz ist im August im Alter von 70 Jahren verstorben, „La noche de
enfrente“ hat er im April und Mai 2011 gedreht. Es wird nicht sein letzter
Film sein; ein weiterer war abgedreht, bevor er starb. Seine Witwe und
künstlerische Mitstreiterin Valeria Sarmiento stellt ihn gerade fertig.
20 May 2012
## AUTOREN
Cristina Nord
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