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# taz.de -- Neuer Film von Ken Loach: Glamour des Überlebens
> Ken Loachs Herz schlägt auch weiterhin für die Underdogs. In seinem
> jüngsten Film „Angels Share. Ein Schluck für die Engel“ geht es um
> Whisky.
Bild: Polizeikontrolle auf Schottisch: Robbie (Paul Brannigan, zweiter von link…
„Was jetzt?“ Diese Frage taucht unenwegt in den Filmen von Ken Loach auf.
„Was jetzt“, fragt sich der Vater aus „Raining Stones“, der für das
Kommunionskleid seiner Tochter auf kriminelle Abwege gerät. „Was jetzt“,
fragen sich die Arbeiter aus „Riff Raff“, die ohne Versicherung schwarz auf
einer Baustelle arbeiten und jeden Tag um ihren Job bangen. „Was jetzt?“,
fragt sich auch Maggie aus „Ladybird, Ladybird“, die sich gerade ein neues
Leben mit einem neuen Freund aufgebaut hat, und dennoch nimmt ihr das
Jugendamt ihre Kinder weg.
Viele Antworten, Spielräume oder Handlungsmöglichkeiten gibt es für Ken
Loachs Helden und Heldinnen nicht. Sie stehen mit dem Rücken zur Wand.
Nicht anders ergeht es auch Robbie aus Ken Loachs neuem Film „Angels’
Share. Ein Schluck für die Engel“. An seiner Zwangslage lässt schon die
erste Einstellung keinen Zweifel. Man sieht Robbies zerknirschtes Gesicht
vor einem dunklen Hintergrund, während der Haftrichter auf ihn einredet.
Man erfährt, dass er schon öfters vor Gericht gestanden hat, dass nach
einer brutalen Gewalttat nun die erste längere Haftstrafe droht. Man hört
auch, dass Robbies Freundin hochschwanger ist, die Vaterschaft vielleicht
eine Wendung in sein Leben bringen wird und der Richter bereit ist, zum
allerletzten Mal Gnade vor Recht ergehen zu lassen.
Ein wenig erinnert die Szene an die Peanuts-Cartoons, in denen der Lehrer
nur aus dem Off in einem strengen, aber unverständlichen Kauderwelsch auf
Charlie Brown und seine Freunde einredet. Auch bei Loach scheinen die Sätze
aus einer fernen fremden Welt zu kommen, die von Robbies kleinkriminellem
Überlebensuniversum nicht viel weiß und dennoch über ihn richtet.
Und während der Richter spricht, bleibt uns die Zeit, mit der Kamera sein
Gesicht zu erkunden. Es ist eines jener Gesichter, die das britische Kino
unentwegt auf die Leinwand holt, mit einer eigenwilligen, angeschlagenen,
vom Alltag geprägten Ausdruckskraft: Es ist der Glamour des
Überlebenswillens. Oder auch jene trotzige Energie, die stets bereit ist,
sich auch über die widrigsten Umstände hinwegzusetzen.
## Vehement und leidenschaftlich
Umso schöner, wenn ein Regisseur wie Ken Loach die dafür notwendige
Rückendeckung liefert. Und zwar auch diesmal mit leidenschaftlicher
Vehemenz. Schon seit Jahrzehnten versammelt der britische Filmemacher vor
seiner Kamera Biografien wie die von Robbie und beweist, dass seine
Überlebensarbeiter und -arbeiterinnen eine zweite Chance mehr als verdient
haben.
Gleiches gilt auch für die anderen Gestalten, die sich noch zu Robbie
gesellen werden. Da wären der begriffsstutzige Albert, die Kleptomanin Mo
und der gute Kamerad Rhino. Sie alle werden vom Haftrichter zu Sozialarbeit
verdonnert und bilden von nun an eine Notgemeinschaft. Und sie brauchen
einander wirklich: Kaum ist Robbie wieder auf freiem Fuß, sieht er sich mit
den Brüdern seiner Freundin Leonie konfrontiert, die ihn aus Glasgow
rausprügeln wollen. Dringend braucht er Geld, um für sich und Leonie eine
gemeinsame Wohnung zu finden.
So findig, wie die kuriose Truppe ihr Schicksal meistern wird, so findig
inszeniert Ken Loch auch seinen fünfundzwanzigsten Kinofilm. Denn diesen
waghalsigen Genremix muss man erst einmal hinbekommen: „Angels’ Share“ ist
ein sozialdramatischer Krimi, der den Zuschauer mit auf eine Expedition in
die schottische Whiskyherstellung nimmt. Der hierfür unverzichtbare
Fremdenführer heißt Harry, ist ein passionierter Whiskytrinker und der
Sozialarbeiter von Robbie und Co.
Von dem geduldigen Mann lernen wir, dass sich der Titel „Angels’ Share“ a…
die zwei Prozent des schottischen Nationalgetränks bezieht, die sich durch
die jahrelange Fasslagerung buchstäblich in Luft auflösen. Und wir lernen
auch, dass manche dieser Whiskys ein Vermögen wert sind. Vier
Sammlerflaschen der teuersten Sorte würden mehr als ausreichen, um dem
Quartett eine solide Existenzgrundlage zu verschaffen. Ein minutiöser Plan
wird ausgetüftelt, dessen Ausführung den Zuschauer den Atem anhalten lässt.
In diesem Film drückt man den Helden und Heldinnen nicht nur für eine
bessere Zukunft die Daumen, sondern auch zum Gelingen eines waghalsigen
Coups. Hut ab vor Ken Loach, der sich seit mehr als einem halben
Jahrhundert an der britischen Wirklichkeit abarbeitet und sich dabei als
Regisseur stets neu erfindet!
17 Oct 2012
## AUTOREN
Anke Leweke
## TAGS
Kinostart
Pete Doherty
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