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# taz.de -- Filmfestspiele von Cannes: Ungewohnt viel Halbgelungenes
> Zum Abschluss der 65. Filmfestspiele erhält Michael Haneke zum zweiten
> Mal die Goldene Palme. Doch nicht alle Entscheidungen der Jury waren so
> überzeugend.
Bild: Das klassische Kinoerlebnis wird seltener – der klassische Glamour und…
Zweimal die Goldene Palme zu gewinnen ist ein rares Glück – bisher wurde es
sieben Filmemachern zuteil. Seit Sonntagabend kann sich ein achter
Regisseur über die Ehre freuen. Der Österreicher Michael Haneke erhielt die
wichtigste Auszeichnung des Filmfestivals von Cannes für seinen Film
„Amour“, nachdem er sie vor drei Jahren für „Das weiße Band“
entgegengenommen hatte.
Eine bessere Entscheidung hätte die neunköpfige Jury unter Vorsitz von
Nanni Moretti nicht treffen können. Denn Hanekes minutiös beobachtete
Studie über ein Ehepaar an der Schwelle zum Tod ragt aus dem diesjährigen
Wettbewerb weit heraus. Sie berührt und geht nahe, ohne den Zuschauer je zu
einem Gefühl zu zwingen.
Die beiden Protagonisten, großartig gespielt von Jean-Louis Trintignant und
Emmanuelle Riva, sind über 80 Jahre alt, eines Morgens erleidet Anne, die
Frau, einen leichten Schlaganfall, wenig später einen zweiten, schwereren,
ihr Mann Georges kümmert sich rührend um sie, obwohl er dabei an seine
Grenzen stößt. Trintignants Spiel macht die Ambivalenz greifbar, die aus
dem Nebeneinander von Selbstlosigkeit und Überforderung, von Zärtlichkeit
und Aggression resultiert.
Und auch die Subtilität, mit der Riva die halbseitige Lähmung, den
unwiderrufbaren körperlichen Verfall, schließlich das bloße Vegetieren
darstellt, ist verblüffend. Die Figuren schwanken: Mal lehnen sie sich
gegen den nahen Tod auf, dann wieder schicken sie sich in das
Unvermeidliche. In einer Szene fragt Eva (Isabelle Huppert), die Tochter
des Paars, ihren Vater, wie es nun weitergehe, und er antwortet: „Wie es
weitergeht? So wie bisher. Und dann wird es schlimmer. Und dann ist es
vorbei.“
## Der waghalsigste Film wurde übergangen
Die übrigen Entscheidungen der Jury fielen weniger überzeugend aus als die
für „Amour“. Der waghalsigste Film des Wettbewerbs, „Holy Motors“, wur…
einfach übergangen. An Leos Carax’ Tour de Force schieden sich die Geister,
kein Film rief in diesem Jahr so konträre Rektionen hervor: Die einen
liebten, die anderen hassten ihn, ich gehöre zur ersten Gruppe.
In „Holy Motors“ lässt sich ein mysteriöser Protagonist namens Monsieur
Oscar (Denis Lavant) in einer Stretchlimousine durch Paris kutschieren,
verkleidet sich, schlüpft in Rollen – etwa in die eines Geschäftsmannes,
eines Killers, einer buckligen Bettlerin, eines ogerartigen Monsters –, und
man fragt sich: Was macht er da? Agiert er in unsichtbaren Filmsets, vor
unsichtbaren Kameras? Lässt er, am Vorabend seines Todes, sein Leben Revue
passieren? Imaginiert er sich als Anderen, als all diejenigen, die er nicht
ist, aber sein könnte?
„Holy Motors“ bleibt die Antwort schuldig, wechselt die Stile wie Monsieur
Oscar die Kostüme, verleibt sich Kinogeschichte und Carax’ bisheriges
Oeuvre ein und ist ohne Frage der Film des Festivals, der seine Fantasien
am ungezügeltsten auf sein Publikum losgaloppieren lässt. Ihm den Preis zu
verwehren, ist das Werk von Krämerseelen.
Ähnliches Pech hatten andere überzeugende Filme: „Moonrise Kingdom“ von W…
Anderson, „Cosmopolis“ von David Cronenberg, „Vous n’avez encore rien v…
(„Ihr werdet euch noch wundern“) von Alain Resnais oder „In Another
Country“ von Hong Sangsoo. Stattdessen gingen die Preise unter anderem an
Ken Loachs Feelgoodmovie „The Angels’ Share“, an Cristian Mungius
bleischweres Klosterdrama „Beyond the Hills“, an Carlos Reygadas’
szenenweise großartiges, dann wieder am eigenen Stilwillen erstickendes
Kunstkino „Post tenebras lux“ und an Matteo Garrones zwar virtuose, aber
auch ein wenig an der Gegenwart vorbei inszenierte Satire „Reality“.
## Ungewohnt viel Halbgelungenes
In diesen disparaten Entscheidungen zeichnet sich ab, was ein Problem des
diesjährigen Festivals war: Es gab im Wettbewerb wie in den übrigen
Sektionen recht viel Mittelmaß zu sehen, ungewohnt viel Halbgelungenes für
Cannes. Retrospektiv fällt damit auch ein trübes Licht auf den Umstand,
dass, wie vor zwei Jahren schon, keine einzige Regisseurin im Wettbewerb
vertreten war.
Eine scharf formulierte Protestnote, unter anderem von Virginie Despentes,
Coline Serreau und Fanny Cottençon unterzeichnet, prangerte das Fehlen von
Filmemacherinnen an; die patzige Reaktion des künstlerischen Direktors
Thierry Frémaux ließ nicht auf sich warten: Man wähle Filme nicht nach dem
Geschlecht der Regisseure aus, erklärte er, was zähle, sei allein die
künstlerische Qualität.
In der Festivalwirklichkeit zählen der Länderproporz und die Macht eines
Weltvertriebs wie Wild Bunch nicht minder, und wo sich die künstlerische
Qualität in Walter Salles’ ödem Roadmovie „On the Road“, der Verfilmung…
Romans von Jack Kerouac, verbirgt, möge Frémaux doch bitte einmal erklären
– biederere Beatniks habe ich noch nie gesehen.
Mindestens genauso fragwürdig bleibt, was an Yousry Nasrallahs „After the
Battle“ kunstvoll ist, einem Film, der in erster Linie Frontalunterricht in
Sachen ägyptische Revolution betreibt. Der Wunsch, aktuelle Weltpolitik im
Programm abzubilden, wog hier offensichtlich schwerer als jede ästhetische
Abwägung.
Hätte sich Thierry Frémaux doch lieber mal den Abschlussfilm in der
Quinzaine des Réalisateurs angeschaut: Noémy Lvovskys „Camille redouble“
(„Camille bleibt sitzen“) ist eine ebenso leichtfüßige wie melancholische
Reflexion über das Verstreichen der Zeit und die Wunden, die sie schlägt,
es ist ein Film, der den Erfahrungshorizont einer Frau Anfang vierzig
auslotet und dabei einen so einfachen wie smarten Trick bemüht: Nach einer
Ohnmacht in der Silvesternacht erwacht die Protagonistin Camille (Noémy
Lvovsky), die von ihrem Mann einer Jüngeren wegen verlassen wurde, als
Teenager in einem Krankenhausbett.
## Lvovskys Trick mit den Teenager-Klamotten
Die Krankenschwester schilt sie wegen des exzessiven Trinkens, ihre Eltern
holen sie tadelnden Blicks ab, fortan geht sie wieder zur Schule, begegnet
ihrem Ehemann in spe als jungem Mann und versucht sich seinen Avancen zu
entziehen, da sie ja weiß, wie kläglich es ausgehen wird. Lvovskys Trick
besteht darin, Camille zwar in 80er-Jahre-Teenager-Klamotten zu stecken und
ihrem Gesicht eine zarte Röte zu verleihen, die sie sich als Erwachsene
weggesoffen hat.
Doch die Darstellerin bleibt dieselbe: Wir sehen die 40-Jährige, und die
Figur hat die entsprechende Lebenserfahrung, während alle anderen Figuren
Camille als Teenager behandeln. „Camille redouble“ mag die Filmkunst nicht
neu erfinden, hätte einen Platz im Wettbewerb aber durchaus verdient.
Immerhin kann sich der Film von Lvovsky – die in hiesigen Kinos zurzeit als
Schauspielerin in Bertrand Bonellos „Haus der Sünde“ und in Benoît Jacquo…
„Lebewohl, meine Königin!“ zu bewundern ist – über den Hauptpreis der
Quinzaine des Réalisateurs freuen.
Was bleibt von diesem 65. Festivaljahrgang, außer einzelnen herausragenden
Filmen und verstreuten Impressionen? Der Eindruck, dass viele Filmemacher
nach Wegen suchen, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen – einfühlsam und
subtil wie Haneke, delirierend wie Leos Carax, verspielt und verschachtelt
wie Rañl Ruiz in seinem postum fertiggestellten „La noche de enfrente“
(„Die Nacht von gegenüber“, in der Quinzaine des Réalisateurs), aber auch
losgelöst von einer einzelnen, psychologisch fassbaren Figur wie in
Cronenbergs „Cosmopolis“, der Adaption des Romans von Don Delillo, in der
sich der Todestrieb der Finanzmärkte im Protagonisten ein Trägermedium
sucht.
Und auch Alain Resnais, der in wenigen Tagen seinen 90. Geburtstag feiert,
beschäftigt sich in seinem Wettbewerbsbeitrag „Ihr werdet euch noch
wundern“ mit dem Tod, wobei sich hier am deutlichsten eine weitere Tendenz
des Festivals abzeichnet: die zur Metafiktion. Das Kino denkt über sich
selbst nach und darüber, wie es Geschichten erzählt, es fragt nach dem
Verhältnis von Schauspieler und Rolle, es fragt nach den Folgen der
Digitalisierung, nach dem, was auf den Tod des analogen Kinos folgen wird.
Das klassische Kinoerlebnis – viele Menschen sitzen zu einer verabredeten
Zeit in einem großen, dunklen Raum und teilen eine Erfahrung – wird rarer,
die neuen Kanäle wie YouTube, [1][mubi.com], iTunes, Snag Films und die
Torrents gewinnen an Macht. Was das langfristig für die Zukunft der großen
Filmfestivals bedeutet, ist hier und heute schwer zu ermessen. Hoffen wir
auf ein Weiterleben nach dem Tod.
28 May 2012
## LINKS
[1] http://mubi.com
## AUTOREN
Cristina Nord
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