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# taz.de -- Live aus Cannes: Ein bisschen borniert
> Ein wenig Anarchie täte Cannes gut: Vor allem Filme von arrivierten
> Autorenfilmern sind dieses Jahr im Wettbewerb. Von Regisseurinnen keine
> Spur.
Bild: Auch Marylin Monroe konnte Cannes nicht mehr Weiblichkeit einhauchen: Wer…
Am Dienstagmorgen stehen die Rolltreppen im Palais du Festival still. Zwei
Handwerker machen sich zwischen Stellwänden im zweiten Stock zu schaffen,
den schmalen Durchgang versperrt ein Wagen voll mit Werkzeug, ein Stockwerk
weiter oben, hinter den Pressefächern, hämmert jemand.
Für die Dekoration ist schon gesorgt: Eine leinwandgroße
Schwarz-Weiß-Fotografie hängt im dritten Stock des Palais, darauf zu sehen
ist Marlene Dietrich, wie sie vergnügt ein fluffiges Tortenstück in Ernst
Lubitschs Mund schiebt.
Heute Abend beginnen die 65. Filmfestspiele von Cannes. Die Ehre, das
Festival zu eröffnen, wird „Moonrise Kingdom“ von Wes Anderson zuteil, der
Geschichte einer fast noch kindlichen Liebe, angesiedelt in den 60er Jahren
auf einer Insel vor der Küste Neuenglands. Ob es Anderson gelingt, in der
ihm eigenen Mischung aus Verschrobenheit und Melancholie an die Stärke und
die Tiefe von „The Royal Tenenbaums“ anzuknüpfen?
Ich hoffe sehr! 21 weitere Filme konkurrieren um die Goldene Palme, und
„Moonrise Kingdom“ ist bei weitem nicht der einzige, auf den man gespannt
wartet.
Michael Haneke ist mit „Amour“ vertreten, seinem ersten Film nach „Das
weiße Band“, der 2009 die Goldene Palme erhielt. Ebenfalls aus Österreich
kommt Ulrich Seidl, der „Paradies: Liebe“, den ersten Teil einer Trilogie,
zeigt. Seidl lässt europäische Frauen in die Ferne reisen, sie erfüllen
sich dort ihre Sehnsüchte, im Mittelpunkt des ersten Teils steht eine 50
Jahre alte Wienerin, die als Sextouristin in Kenia unterwegs ist.
## Lauter weiße Kaninchen
Der rumänische Regisseur Cristian Mungiu gewann 2007 die Goldene Palme mit
dem eindringlichen Drama „Vier Monate, drei Wochen und zwei Tage“, diesmal
steuert er „Dupa dealuri“ („Beyond the Hills“) bei. Alain Resnais ist
unermüdlich und mit „Vous n’avez encore rien vue“ („Sie haben noch gar
nichts gesehen“) vertreten.
Hinzu gesellen sich außerdem Abbas Kiarostami, Hong Sang-Soo und David
Cronenberg mit seiner Don-DeLillo-Adaption „Cosmopolis“ (im Interview mit
Le Monde verrät der kanadische Regisseur, er habe den Stoff aus Faulheit
gewählt. Für ein Originaldrehbuch brauche er Jahre; für das Skript von
„Cosmopolis“ habe er gerade einmal sechs Tage benötigt).
Außerdem laufen „La noche de enfrente“ („Die Nacht von gegenüber“), d…
letzte Film des im vergangenen Jahr verstorbenen Rañl Ruiz, in einer
Nebenreihe, und ein neuer, halblanger Film von Apichatpong Weerasethakul,
„Mekong Hotel“, in einer Sondervorführung. Man kann es nicht anders sagen:
Das Festival schüttelt Versprechen aus dem Ärmel wie ein Zauberer weiße
Kaninchen.
## Homogenes Filmgemisch
Das einzige Problem ist, dass in der Stärke eine Schwäche wohnt. Das
Wettbewerbsprogramm macht einen allzu homogenen Eindruck, denn es
versammelt die neuen Arbeiten arrivierter Autorenfilmer, und die meisten
von ihnen waren schon in den Vorjahren zu Gast in Cannes. Regisseurinnen
sucht man vergebens. 2010 war es genauso, damals zirkulierte sogar eine
Petition gegen so viel Borniertheit.
Die Kritik schien Wirkung zu zeitigen, denn im letzten Jahr liefen vier
Filme von Filmemacherinnen, aber in diesem Jahr ist das vergessen. Und auch
was die Bandbreite, den Formen- und Sprachenreichtum des Kinos angeht,
macht Cannes nicht die beste Figur. Wo anderswo elaborierte Retrospektiven
Einblicke in Produktionszusammenhänge und ästhetische Strömungen der
Kinovergangenheit gewähren, wird in Cannes präsentiert, was an aufwändig
restaurierten und digitalisierten Klassikern auf den Markt kommt.
Genrefilme – etwa neue Arbeiten von Takashi Miike oder Dario Argento –
werden in Nebenreihen abgeschoben, und eine so hemmungslose Komödie wie
„Der Diktator“ von Sacha Baron Cohen wird erst gar nicht ausgewählt.
Anarchie und Respektlosigkeit haben an der Croisette keinen guten Stand.
16 May 2012
## AUTOREN
Cristina Nord
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