# taz.de -- Mursis Wahlsieg in Ägypten: Star für eine Nacht | |
> Nach den Präsidentschaftswahlen in Ägypten jubeln die einen, während | |
> andere Angst haben. Der Sieger Mohammed Mursi schlägt versöhnliche Töne | |
> an. | |
Bild: Während Mursis Anhänger auf dem Tahrir-Platz feiern, haben sich die Anh… | |
KAIRO taz | Freudentriller hallen über den Tahrir-Platz. „Mursi, Mursi, | |
Mursi“, rufen die Leute, so, als wollten sie den Stürmer ihres | |
Lieblingsfußballclubs anfeuern. Der Kairoer Nachthimmel wird von buntem | |
Feuerwerk beleuchtet. Es ist die Wahlparty der Sieger. | |
Hundertausende waren in der Nacht zum Montag auf dem Platz im Zentrum | |
Kairos zusammengeströmt. „Ich bin unendlich glücklich. Ich kann das nicht | |
in Worte fassen, es ist fast unbeschreiblich, das Gefühl, über ein | |
betrügerisches Regime einen Sieg errungen zu haben“, meint Doaa Zidan, | |
Angestellte einer Ölfirma, die mitfeiert. | |
Viele auf dem Platz atmeten bei der Verkündung des Sieges Mohammed Mursi | |
erleichtert auf, auch wenn sie selbst keine Anhänger der Muslimbruderschaft | |
sind. „Mir ist das Herz fast stehengeblieben, als sie das Wahlergebnis | |
verkündet haben, so angespannt war ich. In den Tagen davor haben sie unsere | |
Nerven auf die Folter gespannt“, erzählt der Kinderarzt Mahmud Sabri. Er | |
habe Mursi gewählt, um Schafik zu verhindern, weil er der Inbegriff des | |
alten Regimes sei. | |
## | |
Alle auf dem Platz wissen aber auch, dass der Kampf mit dem Obersten | |
Militärrat noch bevorsteht. Der hat bereits nach der Schließung der | |
Wahllokale in einer Übergangsverfassung die Macht des neuen gewählten | |
Präsidenten massiv beschnitten. Wenn Mursi nächste Woche sein Amt antritt, | |
dann ist er ein Präsident mit gestutzten Flügeln. | |
„Mursi selbst ist nicht stark. Seine eigentliche Stärke bezieht er durch | |
uns auf dem Tahrir. Wir werden hinter ihm stehen und so lange hier bleiben, | |
bis sie ihm alle seine Machtbefugnisse zurückgegeben haben“, meint der | |
Kinderarzt Mahmud Sabri. | |
Doaa Zidan stimmt ihm zu: „Ich hoffe, dass die Muslimbrüder dem Militärrat | |
gegenüber keine Zugeständnisse machen. Die Muslimbrüder müssen wissen, dass | |
wir Ägypter jetzt gesammelt hinter ihnen stehen“, sagt sie. | |
## | |
Ein paar Häuser-Blocks vom Tahrir entfernt herrscht eine fast unheimliche | |
Stille. Während die Sieger auf dem Platz feiern, haben sich die Verlierer | |
in ihre Häuser zurückgezogen. Eine davon ist Abla Hamdi, eine pensionierte | |
Restauratorin. Sie gehört zu den 48 Prozent der Wähler, die Ahmad Schafik, | |
dem letzten Premier Mubaraks, ihre Stimme gegeben haben. | |
Weniger weil sie das alte Regime zurückhaben wollte, als vielmehr, weil sie | |
Angst vor einem Muslimbruder im Präsidentenpalast hat. „Ich bin deprimiert. | |
Ägypten wird sich mit den Muslimbrüdern sicher nicht zum Guten entwickeln“, | |
sagt sie. Sie fürchtet, dass die Muslimbrüder aus Ägypten einen Gottesstaat | |
machen. | |
„Das Problem ist, dass sie die Religion falsch verstehen. Das macht mir | |
wirklich Angst. Vielleicht zwingen sie mir etwas gegen meinen Willen auf“. | |
Aber wie viele Schafik-Wähler versucht sich Abla Hamdi mit dem Wahlergebnis | |
abzufinden: „Mursi hin oder her, ich bete zu Gott, dass ich mit meiner | |
Einschätzung falsch liege und dass bei den Muslimbrüdern vielleicht doch | |
etwas Gutes herauskommt“, hofft sie. | |
Mursi hat in einer ersten Fernsehansprache versöhnliche Töne angeschlagen, | |
auch mit Blick auf die Schafik-Wähler. Er bezeichnete sich als Präsident | |
aller Ägypter und forderte sie auf, das Land gemeinsam voranzubringen. | |
## | |
Für den Chef des Al-Ahram Zentrums für Sozialstudien, Nabil Abdel Fatah, | |
stellt die Präsidentenwahl einen „wichtigen politischen Wendepunkt dar, | |
nachdem Ägyptens 30 Jahre lang politisch tot war“. Für ihn ist der Sieg der | |
Muslimbrüder auch ein Sieg der benachteiligten ländlichen Gebiete über die | |
städtische Elite. | |
„Diejenigen, die auf dem Tahrir-Platz stehen und Mursi feiern, kommen zum | |
großen Teil aus den Provinzen“, sagt er im Gespräch mit dieser Zeitung. | |
Selbst die Antrittsrede Mursis hätte teilweise den Charakter gehabt, als | |
spreche er von der Kanzel eine Dorfmoschee, meint Abdel Fatah. | |
Außer Stereotypen und Slogans habe er im Moment noch wenig Konkretes zu | |
bieten. Ohnehin habe Mursi im Moment kaum politischen Spielraum. Ziehe man | |
die Hälfte der Wahlberechtigten ab, die nicht an die Urnen gegangen seien, | |
habe gerade einmal etwas mehr als ein Viertel der Ägypter für ihn gestimmt. | |
## Islamischer Konservativismus | |
„Und der Militärrat und der alte Staatsapparat betrachten die Wahl als eine | |
persönliche Niederlage und sie werden Mursi den Sieg nicht ohne Widerstand | |
überlassen“, prophezeit er und sieht turbulenten Zeiten mit | |
Wirtschaftskrise und Auseinandersetzungen auf der Straße voraus. | |
Mursi habe nur dann eine Chance, wenn er Koalitionen mit anderen | |
politischen Kräften eingehe, und das funktioniere nur, wenn die | |
Muslimbrüder ihren islamischen Konservativismus ablegen und die Religion | |
weltoffen interpretieren, glaubt Abdel Fatah. | |
Und das sei im Moment alles andere als wahrscheinlich. „Es zu schaffen, ein | |
Regime zu stürzen, ist eine Sache“, sagt Abdel Fatah, „einen Staat völlig | |
neu aufzubauen, eine völlig andere“. | |
25 Jun 2012 | |
## AUTOREN | |
Karim Gawhary | |
Karim El-Gawhary | |
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