# taz.de -- Symbolfigur der Stuttgart-21-Bewegung: Richter klagt Rechtsstaat an | |
> Auf der Montagsdemonstration gegen das Bahnhofsprojekt S21 beschwert sich | |
> die neue Symbolfigur Dieter Reicherter über das Demokratieverständnis der | |
> Justiz. | |
Bild: Symbolfigur im schwarzen Hemd: Dieter Reicherter. | |
STUTTGART taz | Früher, sagt Dieter Reicherter über sich selbst, sei er als | |
Strafrichter ein „harter Hund“ gewesen, „streng, aber gerecht“. Inzwisc… | |
pensioniert, würde er heute einige Fälle anders entscheiden – vor allem, | |
seit er in diesen Tagen den Rechtsstaat von der anderen Seite kennenlernen | |
muss. | |
Am Montagabend steht der 64-Jährige in blauer Jeans und schlichtem | |
schwarzen Hemd am Stuttgarter Hauptbahnhof auf der Bühne. Er gilt als | |
Symbolfigur der Protestbewegung gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21. Die | |
traditionelle Montagsdemo dürfte für ihn also ein sicheres Terrain sein. | |
Doch er wirkt vor seiner Rede etwas nervös. Seine Finger klammern sich an | |
die Klarsichthülle, in die er seinen Text gesteckt hat. | |
Seit Wasserwerfer den Widerstand überwiegend friedlicher Bahnhofsgegner vor | |
fast zwei Jahren brechen sollten, hat sich der Richter im Ruhestand | |
juristisch in den Konflikt eingemischt. Er schrieb damals eine | |
Dienstaufsichtsbeschwerde an das Innenministerium und unterstützt seitdem | |
immer wieder angeklagte S-21-Gegner. | |
## Computer und Unterlagen beschlagnahmt | |
Nun ist er selbst zur Zielscheibe der Justiz geworden. Ende Juni, so | |
erzählt er auf der Kundgebung, sei seine Wohnung durchsucht worden – | |
während er im Ausland weilte. Dabei seien Computer und Unterlagen | |
beschlagnahmt worden. Der Grund für die Durchsuchung: Reicherter war im | |
Besitz von internen Unterlagen aus dem Innenministerium. Aus ihnen geht | |
hervor, wie weit die Ermittlungen gegen S-21-Gegner gingen. | |
Unter anderem heißt es darin, dass die Sicherheitsbehörden auf Erkenntnisse | |
des Verfassungsschutzes und auf die Arbeit verdeckter Ermittler | |
zurückgreifen sollten. „Unterlagen“, sagt Reicherter, „die ein mehr als … | |
bedenkliches Demokratieverständnis zeigen und die schönen Worte im | |
Koalitionsvertrag der grün-roten Landesregierung Lügen strafen.“ Die Kripo | |
sollte herausfinden, wer Reicherter die Unterlagen zugesteckt hat. Der | |
Versuch, dass er die Papiere freiwillig herausgibt, sei zuvor gar nicht | |
erst unternommen worden. | |
## Keine Antwort, von niemandem | |
Dabei hatte Reicherter nach eigener Auskunft Anfang des Jahres mehrfach | |
versucht, mit der Landesregierung Kontakt aufzunehmen. Doch weder vom | |
Staatsministerium noch vom Innenministerium habe er eine Antwort erhalten. | |
Dienstagmittag bei einer Pressekonferenz mit Ministerpräsident Winfried | |
Kretschmann (Grüne): Auf Nachfrage der taz, warum Reicherter keine Antwort | |
von ihm erhalten habe, schaut Kretschmann in seine Unterlagen, die ihm für | |
die Pressekonferenz vorbereitet wurden. Er verweist auf zwei Treffen vor | |
Weihnachten, bei denen es unter anderem um eine friedliche Räumung des | |
Schlossgartens ging. | |
Innenminister Reinhold Gall und die Staatsrätin für Bürgerbeteiligung, | |
Gisela Erler, seien dabei gewesen. „Selbstverständlich waren wir also mit | |
Herrn Reicherter im Gedankenaustausch“, sagt Kretschmann. Dieses Gespräch | |
sei konstruktiv verlaufen – allein: Zu diesem Zeitpunkt war Reicherter noch | |
gar nicht im Besitz der Unterlagen. | |
## Nun entscheidet das Landgericht | |
Ob es Anfang des Jahres noch weitere Treffen gegeben habe, soll Kretschmann | |
beantworten. Das steht nicht in seinen Unterlagen. „Weiß ich nicht“, | |
murmelt er. Sein neben ihm sitzender Justizminister Rainer Stickelberger | |
ergänzt, dass über die eingelegte Beschwerde von Reicherter nun das | |
Landgericht zu entscheiden habe. Dabei werde über die Recht- und | |
Verhältnismäßigkeit entschieden. | |
Eine Sache ist hingegen bereits entschieden: Der frühere Richter selbst hat | |
sein Vertrauen in den Rechtsstaat verloren, teilweise zumindest. Dieser | |
Prozess habe bereits im vergangenen Jahr begonnen. „Zunächst habe ich noch | |
gedacht, dass es objektive Behörden gebe, die das aufklären, aber da habe | |
ich erhebliche Zweifel bekommen.“ Das alles treffe ihn innerlich sehr. | |
„Weil ich selbst Teil des Rechtsstaates war.“ | |
17 Jul 2012 | |
## AUTOREN | |
Nadine Michel | |
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