# taz.de -- Debatte Stuttgart 21: Wo Boris Palmer irrt | |
> „Kopf oben, Bahnhof unten“ ist das falsche Motto. Denn auch ein | |
> demokratisches Mehrheitsvotum kann Unrecht nicht heilen. Eine Replik auf | |
> Boris Palmer. | |
Bild: Aufgegeben haben die Stuttgart 21-Gegner noch nicht. | |
Der kluge Kopf Boris Palmer weiß, dass Stuttgart 21 auch nach der | |
Volksabstimmung irrsinnig bleibt. Unterlegener Demokrat, als der er sich | |
sieht, verlangt er nun, das Projekt trotz aller Täuschungen und | |
Manipulationen umzusetzen. Sein Motto könnte lauten: „Ein demokratischer | |
Mehrheitswille heilt selbst schweres Unrecht.“ | |
[1][Palmers Beitrag in der taz vom 23. Mai] ruft mich als Juristen auf den | |
Plan. Soll eine wie auch immer zustande gekommene Mehrheit etwa auch | |
Verfassungsnormen, gar Grundrechte beugen dürfen? | |
So sehr sich Boris Palmer um die Bewegung gegen S 21 verdient gemacht hat, | |
jetzt bleibt er ihr fern. Die Verabschiedung von seinen Überzeugungen ist | |
das eine. Aber ist nicht das Demokratie- und Rechtsverständnis, in das | |
diese Wende eingebettet ist, ein ebenso großer Irrtum? | |
Palmer hält den Gesellschaftsvertrag unserer Demokratie, den | |
Mehrheitswillen zu beachten, für das Wichtigste. Klingt erst einmal gut, | |
greift aber zu kurz. Denn damit umschifft er, dass das Grundgesetz | |
Grundlage und Rahmen der demokratischen Willensbildung ist. Alle | |
Staatsgewalt ist an diese Grundlage gebunden. Auch Plebiszite | |
beziehungsweise ihre politischen Voraussetzungen sowie Folgen dürfen nicht | |
gegen Verfassungsnormen verstoßen. | |
Im Fall des Bahnhofsstreits zum Beispiel nicht gegen Artikel 104 a | |
Grundgesetz, der aus gutem Grund die pauschale Mischfinanzierung bei | |
Bundesverkehrswegen untersagt. Dies soll verhindern, dass sich reichere | |
Bundesländer Mittel aus dem Bundesverkehrswegeplan quasi einkaufen, indem | |
sie eigenes Geld beisteuern. Genau dies ist die Finanzierungsgrundlage von | |
Stuttgart 21 und der Neubaustrecke nach Ulm. | |
## Auf Sand gebaut | |
Selbst wenn der Tiefbahnhof ein sinnvolles Projekt wäre: Das reiche | |
Baden-Württemberg darf sich nicht durch riesige Zuzahlungen | |
Investitionsmittel ins Land holen, die andernorts dann fehlen. Seit | |
November 2011 wissen die Grünen und namentlich Ministerpräsident Winfried | |
Kretschmann durch das von ihnen selbst in Auftrag gegebene Rechtsgutachten | |
von Professor Hans Meyer, dass Stuttgart 21 damit auf Sand gebaut ist. | |
Die Grünen, jetzt in der Regierungsverantwortung, versuchen ihre Volte zu | |
kaschieren, indem sie sich hinter ihrem schwierigen Partner SPD | |
verschanzen. Aber das Grundgesetz gilt auch für die SPD. Und wenn | |
unterschiedliche Auffassungen beider Parteien in einer zentralen Frage wie | |
der Verfassungskonformität der S-21-Finanzierung bestehen, müssen die eben | |
fair und nötigenfalls gerichtlich geklärt werden. | |
Statt sich dem Druck der SPD zu beugen, hätten die Grünen Format bewiesen, | |
wenn sie mit offenem Visier gekämpft, eine Volksabstimmung auf dieser | |
Grundlage erst einmal zurückgestellt und die fraglichen Zahlungen an die | |
Bahn AG bis zu einer gerichtlichen Klärung der Verfassungskonformität von S | |
21 zurückgehalten hätten. | |
## Manipulationen der Bahn | |
Keine Volksabstimmung stellt uns davon frei, im Interesse der Sache auf der | |
Einhaltung von Recht zu bestehen. Das Allgemeine Eisenbahngesetz lässt den | |
drastischen Rückbau der Verkehrsinfrastruktur nicht zu, als der sich S 21 | |
erwiesen hat. | |
Was der gesunde Menschenverstand schon lange wusste, ist inzwischen | |
ebenfalls gut belegt, unwidersprochen von der Bahn, wissenschaftlich und | |
durch bahninterne Dokumente: Ein achtgleisiger Tiefbahnhof kann nicht die | |
Kapazität eines sechzehngleisigen Kopfbahnhofs bieten und erst recht keine | |
Leistungssteigerung um 30 Prozent in der Spitzenstunde, wie sie von den | |
Projektbefürwortern versprochen und wie es Grundlage der Volksabstimmung im | |
November 2011 war. | |
Die Manipulationen der Bahn, die zu diesem falschen Ergebnis führten, sind | |
inzwischen identifiziert. Fest steht nun das Gegenteil: S 21 bedeutet eine | |
Leistungsminderung des Bahnknotens Stuttgart um mehr als 30 Prozent – weil | |
statt 50 möglichen nur noch 32 Züge in der Spitzenstunde halten. | |
## Falsche Annahmen | |
Damit gehen auch der Planfeststellungsbeschluss von 2005 und das dazu | |
ergangene Gerichtsurteil von falschen Annahmen aus, die jetzt der Korrektur | |
bedürfen. Dies und vieles andere fordert gerade nach der neuesten | |
Beweislage den entschiedenen Widerstand gegen S 21, auch von Palmer, der | |
einmal angekündigt hatte, die Lehrbücher aus seinem Mathematikstudium zu | |
verbrennen, wenn die Behauptungen der Bahn zur Leistungsfähigkeit von S 21 | |
Bestand hätten. | |
Mit der Volksabstimmung ist nur ein Kündigungsgesetz zu Stuttgart 21 | |
gescheitert, weil die grün-rote Koalition es unterlassen hat, zuvor die | |
dafür wesentlichen Fakten und Verfassungsfragen zu klären – ein schweres | |
politisches Versäumnis. | |
Jetzt wird so getan, als habe das Volk einen Blankocheck erteilt, wie | |
Palmer und Kretschmann nahelegen. Das Plebiszit gar als Zustimmung zu einem | |
Rückbau zu werten, ist frivol. Nach der jetzigen Faktenlage wäre ein | |
Baustopp die demokratischere Schlussfolgerung aus der Volksabstimmung als | |
der Weiterbau. | |
## Letzte Hoffnung Karlsruhe | |
Zwar räumt Palmer selbst ein, dass das Projekt an seinen eigenen Mängeln | |
scheitern könne. Aber würde dies von selbst geschehen? Lernen wir nicht | |
gerade in diesen Zeiten, wie beharrlich selbst die irrationalsten | |
Machtstrukturen sind, wenn es keinen gibt, der sie infrage stellt? Deshalb | |
gilt es, nicht abseits zu stehen, sondern unsere Mitverantwortung in der | |
Bürgerbewegung fachbezogen und solidarisch wahrzunehmen. | |
Boris Palmer ist herzlich eingeladen, wieder einmal auf einer der | |
Montagsdemos zu reden, zu der sich weiterhin auch ohne „Tagesschau“ jeden | |
Montag Tausende versammeln. | |
Der Widerstand gegen dieses desaströse Projekt geht auf allen Ebenen | |
weiter. Vielleicht werden die gerichtlichen Eilverfahren, mit denen | |
betroffene Eigentümer jetzt der drohenden Entwertung und Zerstörung ihres | |
Besitzes durch die Deutsche Bahn AG begegnen werden, den Baustopp bringen. | |
Mal sehen, ob die Justiz, am Ende das Bundesverfassungsgericht, dem | |
opportunistischen Treiben der Politik, die sich aus machtpolitischen | |
Kalkülen locker über Verfassungsnormen hinwegsetzt, Einhalt gebieten wird. | |
8 Jun 2012 | |
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