| # taz.de -- OB-Kandidat Kuhn über Stuttgart: „Ich bin ein Wertkonservativer�… | |
| > Fritz Kuhn, grüner Oberbürgermeisterkandidat für Stuttgart, über die | |
| > Öko-Modernisierung der Schwabenmetropole, Heimatverbundenheit und Ernst | |
| > Bloch. | |
| Bild: Die Rückkehr in den Wahlkampf im Ländle ist für Fritz Kuhn „wie eine… | |
| taz: Herr Kuhn, Sie sind Mann und Realo. Muss neben Ihnen nicht noch eine | |
| grüne Fundi-Frau in Stuttgart antreten? | |
| Fritz Kuhn: Sehr witzig. Bei Oberbürgermeisterwahlen kandidiert eben nur | |
| einer, das ist auch bei den Grünen so üblich. Ich bin von den Grünen in | |
| Stuttgart gefragt worden. Und die wussten schon, dass ich ein Mann und kein | |
| Doppelspitz bin. | |
| Stuttgart galt mal als langweiligste Stadt der Welt. | |
| Ach, das sind doch alles überholte Klischees. Stuttgart hat mit bald | |
| 600.000 Einwohnern eine interessante Größenordnung, bietet das | |
| Gemeinsam-mit-anderen-ausgesetzt-Sein, das der Soziologe Richard Sennett | |
| als Urbanität definiert – gleichzeitig gibt es fast dörfliche Ecken. Vor | |
| allem gibt es hier einen kulturellen Aufbruch: Die Leute sitzen nicht mehr | |
| im Reihenhaus und warten, bis die Kinder groß sind, sondern sie mischen | |
| sich ein und sind bereit, diese Stadt zu ihrer Stadt zu machen. | |
| Sie lebten lange hier: Ist Stuttgart Heimat für Sie? | |
| Für mich ist es wie eine Heimkehr. Und Heimat vielleicht so, wie der | |
| Philosoph Ernst Bloch sie definiert: als Ort, an den man zurückgeht, wie in | |
| die Kindheit. Und aber auch als Ort, an dem noch keiner war. Bloch hat das | |
| Utopische betont, also das, was in Heimat noch zu verwirklichen wäre. | |
| Ist Ernst Bloch für Sie, was Hannah Arendt für Ministerpräsident | |
| Kretschmann ist – eine ständige Zitatquelle? | |
| Nein. Aber Bloch hat mich immer fasziniert, weil er den Utopiebegriff vor | |
| dem positivistischen Denken bewahrt hat. Manchmal trotzig, wie ein Kind. | |
| Und er hat immer versucht, den Konservativen die Hegemonie über die | |
| Definition des Heimatbegriffs wegzunehmen. Das war eine große | |
| kulturpolitische Leistung. | |
| Was heißt das für Stuttgart? | |
| Es gilt in Stuttgart, viele alte Orte zu bewahren, aber auch viel radikal | |
| umzukrempeln. Ein Beispiel: Eine Stadt, die so reich ist, muss ihre | |
| ökologischen und sozialen Fragen lösen. Die klassische Stuttgarter Antwort | |
| war bisher immer: mehr Beton. Wenn sich die städtische Politik minderwertig | |
| fühlte, nahm sie Geld in die Hand und ergoss sich in Beton. Das muss | |
| aufhören. | |
| Was sind Ihre Antworten auf Stuttgarter Minderwertigkeitskomplexe? | |
| Es gibt keinen Grund dafür. Wir müssen auf qualitativ Neues stolz werden. | |
| Ökologische Modernisierung muss zum Leitthema dieser Stadt werden. | |
| Stuttgart ist ohne Fahrzeugbau nicht denkbar, es fehlt jedoch an ökologisch | |
| reflektierter Mobilität. Außerdem muss die Stadt verstehen, dass Armut alle | |
| angeht und nicht nur die Armen. Dazu kommt die Bürgergesellschaft. Der | |
| Widerstand gegen Stuttgart 21 muss zum Ergebnis haben, dass bei großen | |
| Strukturfragen die Bürger in Zukunft vorher gefragt werden und nicht | |
| hinterher. Dafür stehe ich. | |
| Stuttgart 21 haben Sie abgehakt? | |
| Wie könnte ich? Ich hielt schon 1996 eine Rede im Landtag, in der ich | |
| Alternativen zum Tiefbahnhof-Projekt forderte. Aber ich sehe auch, dass es | |
| aus der schwarz-gelben Zeit rechtsgültige Verträge gibt, auf die sich die | |
| Bahn berufen kann. Und der Volksentscheid fand keine Mehrheit für den | |
| Ausstieg. Deshalb halte ich nichts davon, weiter die Illusion zu schüren, | |
| ein solcher sei noch möglich. Nur die Bahn selbst kann noch aussteigen. | |
| Aber wichtig wird, was auf der frei werdenden Fläche passiert. Das ist noch | |
| offen. | |
| Was ist Ihr Plan? | |
| Stuttgart hat einen großen Mangel an preisgünstigem Wohnraum. Das ist | |
| vielleicht die größte soziale Frage in der Stadt. Einkommensschwache | |
| Familien werden immer weiter an den Rand der Region gedrängt bis hinaus ins | |
| Hohenlohische oder in den Ostalbkreis. Deshalb muss es einen Anteil | |
| Wohnungen auf der Fläche geben. Außerdem muss der Ort kulturell bespielt | |
| werden. Auf Protzarchitektur können wir verzichten. | |
| Heiner Geißler behauptet auch, dass da künftig auch Menschen mit wenig Geld | |
| wohnen werden. Das glaubt aber kaum jemand. | |
| Ich sage: Ich werde im Falle eines Sieges Sozialwohnungen auf der Fläche | |
| durchsetzen – und hätte da wohl auch die Bürger auf meiner Seite. Aber es | |
| reicht nicht, mittenrein auf Stuttgart 21 ein schönes Viertel zu bauen. Das | |
| Konzept muss die benachbarten Flächen miteinbeziehen. | |
| Nicht wenige neue Wähler sind enttäuscht, weil sie die Grünen zur | |
| Verhinderung des Tiefbahnhofs wählten. Die wenden sich wieder ab. | |
| Ja, manche sind enttäuscht. Und sie projizieren diese Enttäuschung auf den | |
| Kretschmann, die Grünen … | |
| … und auf Sie. | |
| Ich höre Kritik an den Grünen aus der Bewegung, das stimmt, aber auch | |
| Unterstützung für mich. Um eine Frage kommt kein S-21-Gegner drum herum: ob | |
| er nur wegen seiner Enttäuschung über Grüne zulassen will, dass dieser | |
| Machtkampf zugunsten der Schwarzen ausgeht, die ja für den Bahnhof | |
| verantwortlich sind. Da wird die Quittung auf die Falschen ausgestellt. Und | |
| eins darf man nicht vergessen: OB-Wahlen sind in Baden-Württemberg keine | |
| reinen Parteienwahlen, sondern auch Personenwahlen. Ich traue mir zu, als | |
| Person trotzdem die Mehrheit zu kriegen. | |
| In Stuttgart muss angeblich jetzt ganz viel versöhnt werden. Wie streitet | |
| man da im Wahlkampf? | |
| Machen Sie sich mal keine Sorgen. Dieser Wahlkampf wird eine richtige | |
| Auseinandersetzung über die Frage … | |
| … wer besser versöhnen kann. | |
| Nein, ob die Stadt immer noch der CDU gehört. Natürlich wird es auch darum | |
| gehen, Brücken zu bauen. Nehmen Sie nochmal den Volksentscheid zu Stuttgart | |
| 21. Die Minderheit muss verstehen, dass die Mehrheit die Mehrheit ist. Und | |
| die Mehrheit muss wissen, dass sie eine 48-Prozent-Minderheit nicht | |
| verhöhnen kann. Im Landtag standen CDUler nach dem Entscheid auf den | |
| Tischen und grölten – das geht nicht. | |
| Welche Macht in Stuttgart wollen Sie ablösen? | |
| Ein klassisches Machtgebilde besteht aus der Mehrheits-CDU, Teilen der | |
| Wirtschaft und Investoren. Die Christdemokraten haben sich in der | |
| Vergangenheit bedingungslos den Investoren unterworfen. Auf der anderen | |
| Seite steht ein aufgeklärtes Bürgertum, das sich um die Stadt kümmert. Und | |
| auf dieser Seite stehen wir Grünen und oft auch die SPD. | |
| Auch das altkonservative Bürgertum wird für sich in Anspruch nehmen, | |
| aufgeklärt und kümmernd zu sein. | |
| Erhard Eppler hat das konservative Spannungsfeld der CDU umschrieben mit | |
| dem Unterschied zwischen Werte- und Strukturkonservativen. Die einen wollen | |
| die Natur erhalten oder den Zusammenhalt in der Gesellschaft, die anderen | |
| möchten Macht erhalten. Das Problem der CDU ist doch, dass sie erstens | |
| keine Großstadtpartei ist. Und dass zweitens die Wertkonservativen eine | |
| Minderheit stellen. Während ich für die baden-württembergischen Grünen | |
| behaupte, dass wir ein Gespür für Werte haben – sonst hätte Kretschmann | |
| diesen Erfolg nicht. | |
| Würden Sie sich als Wertkonservativer bezeichnen? | |
| Ja, ich bin ein Wertkonservativer. Dass Menschen in der Nachbarschaft auch | |
| füreinander verantwortlich sind, ist für mich ein wertkonservativer | |
| Gedanke. Die Idee der Subsidiarität auch – Armut geht alle im direkten | |
| Umfeld an. Nur gibt es einen wichtigen Punkt bei diesem | |
| Wertkonservativismus: Du musst zu radikalen Veränderungen bereit sein, | |
| damit Wertvolles erhalten bleiben kann. | |
| Herr Kuhn, ist es nicht Ironie der grünen Geschichte, dass Sie einst | |
| mangels Machtperspektive aus Stuttgart flüchteten – und Kretschmann blieb | |
| einfach sitzen und ließ das Amt zum Mann kommen? | |
| Tja, es kommt immer anders, als man denkt. Als ich 2000 in die | |
| Bundespolitik ging, ging es der Partei sehr schlecht. Da haben viele | |
| gesagt: Wie kannst du so blöd sein? Du bist hier der Chef der | |
| Landtagsfraktion und jetzt gehst du in diesen Intrigenstadel? Aber es war | |
| richtig für mich, nach zwölf Jahren Fraktionsvorsitz im Landtag etwas | |
| anderes zu machen. Und jetzt wäre es gut, nach zwölf Jahren wieder | |
| zurückzukehren, um zu gestalten. | |
| Dafür müssen Sie den parteilosen CDU-Kandidaten und ehemaligen | |
| Werbeagenturchef Sebastian Turner schlagen. Was halten Sie von ihm? | |
| Ich kenne ihn noch gar nicht. Aber was ich bisher lesen konnte, hat mich | |
| nicht übermäßig beeindruckt. | |
| Was genau? | |
| Wenn er gesagt hat, er stünde fürs Geschäft und ich stünde fürs Geschwätz, | |
| dann perlt das bei mir ab wie beim Seehund das Wasser. Ansonsten kann ich | |
| nur sagen: Er kandidiert halt nicht für den Chefposten einer Werbeagentur, | |
| sondern für ein wichtiges politisches Amt. | |
| Wird das Ihre Strategie, ihn als Werbefuzzi abzuwerten? | |
| Nein, ich werde ihn nicht unterschätzen. Das ist nicht meine Art. | |
| Da ist aber noch eins: Sie brauchen die SPD, um OB zu werden. | |
| Also: Rumzuhüpfen und der SPD sagen zu wollen, ihr dürft nicht kandidieren, | |
| das ist nicht mein Stil. Ich glaube aber, dass sich die Desaster der | |
| Vergangenheit in den zweiten Wahlgängen nicht wiederholen werden. Die SPD | |
| hat vor 16 Jahren verhindert, dass Rezzo Schlauch OB wurde. Boris Palmer | |
| hat vor acht Jahren zurückgezogen und für Schuster von der CDU votiert. | |
| Also steht es jetzt unentschieden. Das kann man als ewigen Fluch | |
| weitertreiben – oder man lässt es. Ich glaube, dass man es lässt. | |
| Haben Sie die entsprechenden Gespräche schon geführt? | |
| Nein, da muss man keine Gespräche führen. Erstens regiert man im Land | |
| zusammen, zweitens will man neun Monate später im Bund eine rot-grüne | |
| Regierung stellen. | |
| Dass Winfried Kretschmann Ministerpräsident ist und nicht Nils Schmid, ist | |
| für die SPD traumatisch. Und nun noch ein Grüner statt eines Roten? | |
| Da haben Sie zwar Recht, aber in Stuttgart leiden sowohl die Grünen als | |
| auch SPD-Anhänger vor allem unter der schwarzen Vergangenheit. Außerdem | |
| denke ich, dass ich viele rot-grüne Wechselwähler erreichen werde. Da habe | |
| ich überhaupt keine Sorge, dass das schiefgeht. Das ist auch einfach eine | |
| Frage praktischer politischer Vernunft. | |
| Wer ist vernünftig, wenn die Psyche krank ist? | |
| Ach Kränkungen sind es, keine Krankheiten. Aber diese Verletzungen sind | |
| verheilt, vielleicht ist noch ein bisschen Schorf drauf, aber den muss man | |
| jetzt nicht wieder aufkratzen. Die Wähler wollen nicht, dass die CDU sich | |
| da wieder festsetzt: Darum geht es. | |
| 2 Apr 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Peter Unfried | |
| Ulrich Schulte | |
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