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# taz.de -- Konflikt an der syrisch-türkischen Grenze: Erdogans syrische Albtr…
> Die Türkei wollte führende Macht im Nahen Osten werden. Jetzt ist die
> Freundschaft der türkischen Führung zum syrischen Herrscher Assad in
> Feindschaft umgeschlagen.
Bild: Die Grenzregion zwischen der Türkei und Syrien
ISTANBUL taz | Als der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan am
Montag vor einer Woche die Nachrichten angeschaut hat, muss er sich mächtig
geärgert haben: Unter dem Jubel der versammelten palästinensischen
Bevölkerung rollte da der Emir des Golfstaates Katar, Hamad bin Chalifa
al-Thuni, in seiner gepanzerten Mercedes-Limousine durch den Gazastreifen.
Als erster ausländischer Staatschef wagte er es, der Hamas-Regierung seine
Reverenz zu erweisen.
Dieser Staatschef hatte eigentlich Tayyip Erdogan sein wollen. Im Sommer
letzten Jahres, kurz bevor er seine Tour durch Ägypten, Libyen und Tunesien
begann, hatte er öffentlich darüber sinniert, auch Gaza zu besuchen. Es
wäre die Krönung für den Helden der arabischen Massen gewesen. Doch die
damalige ägyptische Militärführung riet ab. Die Konsequenzen eines solchen
Besuchs seien schwer kalkulierbar, die israelisch-ägyptischen Beziehungen
wären auf eine harte Probe gestellt worden. Erdogan verzichtete schweren
Herzens.
Der jetzige Besuch das katarischen Emirs in Gaza wird ihn schmerzlich daran
erinnert haben, dass seine Zeit als heimlicher Führer des Nahen Ostens
lange vorbei ist. Jetzt lästern diejenigen die ihn vor einem Jahr noch
bejubelt haben, Erdogan klopfe zwar starke Sprüche, tue aber nichts. Als
Löwe gestartet und als Bettvorleger gelandet, sozusagen.
Der Grund für den Abstieg hat einen Namen: Syrien. Mit dem Bürgerkrieg in
Syrien sind Erdogan und sein agiler Außenminister Ahmed Davutoglu auf dem
Boden der nahöstlichen Realitäten gelandet. Wer immer dort mitmischen will,
wer glaubt, mit und durch den Nahen Osten seine eigene Machtposition
stärken zu können, muss sich auf böse Überraschungen gefasst machen. Das
ging so manchem US-amerikanischen Präsidenten so. Die russischen
Gegenspieler konnten in den arabischen Ländern ebenso wenig gewinnen. Das
muss nun auch Tayyip Erdogan erfahren.
## Sie waren beste Freunde
Als in Syrien die Demonstrationen Anfang des letzten Jahres begannen, war
Assad noch einer der besten Freunde Erdogans. Nicht nur, dass beide
Regierungen mehrmals gemeinsame Kabinettssitzungen veranstalteten – Erdogan
und Frau machten sogar Urlaub mit dem Ehepaar Assad.
Syrien war für Erdogan der Schlüssel, um das Tor zu den Märkten und
Menschen in der arabischen Welt zu öffnen. Außerdem glaubte er, Assad sei
ihm dankbar, weil er als Premier eines Nato-Landes half, das Regime auch im
Westen wieder hoffähig zu machen. Erdogan und Davutoglu waren deshalb fest
davon überzeugt, Assad zu Reformen überreden zu können, um so den Unmut in
der Bevölkerung abfangen zu können.
Assad, glaubte Erdogan, sei zu halten, wenn er nur dem Rat aus Ankara
folge. Doch Assad folgte nicht. Statt auf seinen großen Bruder aus Ankara
zu hören, folgte er dem Vermächtnis seines Vaters, der aufkommenden Protest
stets brutal niedergeschlagen hatte.
Erdogan musste jäh erkennen: Sein vermeintlich großer Einfluss in Damaskus
war nichts wert. Glaubt man seinem Außenminister Davutoglu, hat ihn das
nicht nur politisch alarmiert, sondern auch ganz persönlich schwer
brüskiert.
## Erdogan: Assad muss weg
Erdogan schwenkte in kurzer Zeit völlig um. Aus dem Verbündeten Assad wurde
ein Feind. Und der Feind sollte weg. Das war nicht nur eine politische
Absetzbewegung von einem scheinbar fallenden Despoten. Es war und ist für
Erdogan eine ganz persönliche Angelegenheit geworden: Assad muss weg.
Doch Erdogan und Davutoglu verkalkulierten sich erneut. Im Frühjahr war die
türkische Führung überzeugt, Assad werde jeden Tag fallen. Als Tayyip
Erdogan seine Vorwürfe gegen den Despoten, „der sein eigenes Volk
ermordet“, immer lauter vortrug, hoffte er, Assad den Rest zu geben. Assad
fiel nicht. Stattdessen eskalierte der Bürgerkrieg. In Syrien entstand die
denkbar schlimmste Situation, sagte Präsident Abdullah Gül. Das Land drohe
„in einen Krieg entlang ethnischer und religiöser Gruppierungen zu
versinken“.
Folge für die Türkei: Mittlerweile sind mehr als 100.000 Flüchtlinge über
die Grenze gekommen. Die Regierung hat große Probleme, die Leute
unterzubringen und zu versorgen. Schlimmer noch, der Krieg droht sich auf
die Türkei auszudehnen. Bewaffnete syrische Aufständische operieren von der
Türkei aus, weshalb es eigentlich auch nicht verwundern kann, dass immer
wieder syrische Granaten auch auf türkischem Boden einschlagen. Viel
bedrohlicher aber ist, dass Assad die Widersprüche innerhalb der Türkei
geschickt ausnutzt.
Erdogan, vermeintlicher Kämpfer für die Menschenrechte in Syrien, hat mit
der Kurdenfrage zu Hause selbst ein immenses ungelöstes Problem. So, wie
Erdogan die syrische Opposition unterstützt, erlebt andererseits auf einmal
die kurdische PKK einen enormen militärischen Aufschwung. Zudem hat Assad
seine Truppen aus den von Kurden besiedelten Gebieten entlang der
türkischen Grenze zurückgezogen. Folge: Pro-PKK orientierte kurdische
Gruppen haben dort zumindest in einigen Städten die Kontrolle übernommen.
## Drohender türkischer Befreiungsschlag
Erdogan steht damit vor einer der schwierigsten Situationen in seiner
zehnjährigen Regentschaft: Der Krieg greift auf die Türkei über. Statt zur
unangefochtenen Führungsmacht in der Region droht die Türkei zu einer
Konfliktpartei unter anderen zu werden.
Erdogan neigt in solchen Situationen zum großen Befreiungsschlag. Er würde
am liebsten mit türkischen Bodentruppen einmarschieren. Doch bislang halten
ihn seine Militärs, aber auch sein Außenminister zurück. Vor allem in den
USA will man nicht in einen neuen Krieg im Nahen Osten hineingezogen
werden. „Wir fürchten“, berichtete der Kolumnist Mehmet Ali Birand von
einem Gespräch im US-Außenministerium, „dass Erdogan sich durch eine neue
Provokation von Assad zu einer Intervention hinreißen lässt und uns alle
mit hineinzieht.“
Erdogan versucht seit Längerem vergeblich, Präsident Barack Obama für eine
Pufferzone entlang der türkisch-syrischen Grenze zu gewinnen. Das hätte den
Vorteil, dass die Flüchtlinge auf syrischem Boden untergebracht werden
könnten und die türkische Armee die Kontrolle über einen großen Teil der
jetzt von syrischen Kurden selbstverwalteten Gebiete erlangte.
Doch eine solche Pufferzone müsste aus der Luft abgesichert werden. Das
geht nur mit Unterstützung der USA. Sowohl Präsident Obama als auch sein
Herausforderer Mitt Romney haben jedoch bereits abgewunken. Die Absage
dürfte auch über den Wahltag vom 6. November hinaus Bestand haben.
## Bevölkerung lehnt Alleingang ab
Seitdem diskutieren türkische Medien die Frage: Können wir es auch allein?
Einer der dümmsten Lautsprecher Erdogans, Europaminister Egeman Bagis,
glaubt, wenn die türkische Armee erst einmal losschlagen würde, hätte sie
in wenigen Stunden Damaskus erobert. Andere sind realistischer.
Außenminister Ahmet Davutoglu betont, eine militärische Intervention könne
es nur mit dem Mandat des UNO-Sicherheitsrates geben. Da sind Russland und
China vor. Nach letzten Umfragen sind außerdem 70 Prozent der Bevölkerung
strikt gegen eine Militärintervention im Nachbarland. Selbst mit einer
Neuordnung Syriens nach einem Abgang von Assad wollen 51 Prozent nichts zu
tun haben.
Trotzdem befürchten viele Türken, die Situation könne aus dem Ruder laufen.
Erdogan, schreibt Nuray Mert, eine seiner bekanntesten Kritikerinnen, „ist
kein Mann des Kompromisses, sondern der Konfrontation. Er könnte allen
Einwänden zum Trotz einen Alleingang wagen. Das könnte dann zum türkischen
Vietnam werden.“
Nüchtern betrachtet, kann Erdogan nichts tun als abwarten. Selbst sein
Einfluss auf die syrische Opposition schwindet. Die in Istanbul versammelte
Exilopposition ist zerstritten. Die auf der türkischen Seite der Grenze
sitzenden Führer der Freien Syrischen Armee haben in Syrien nichts zu
melden. Die Aufständischen vor Ort orientieren sich lieber an ihren
direkten Geldgebern und Waffenlieferanten in Saudi-Arabien und in Katar.
Nicht nur in Gaza, auch bei den sunnitischen Aufständischen rund um Aleppo
und Damaskus hat Scheich Hamad bin Chalifa al-Thuni gegenüber Erdogan die
Nase vorn.
29 Oct 2012
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
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