# taz.de -- Debatte Chinas neue Mittelschicht: Sie wollen mehr als Wohlstand | |
> Ein Viertel der Chinesen hat in den vergangenen 20 Jahren aus der Armut | |
> herausgeschafft. Dennoch wächst die Unzufriedenheit. | |
Bild: Sie sind vermutlich ohne Armut aufgewachsen: Gruppenhochzeit in Chongqing. | |
Sie haben studiert, besitzen eine Wohnung, ein Auto, einmal im Jahr ist | |
eine Auslandsreise drin. Ein iPad ist für viele Chinesinnen und Chinesen | |
ebenso ein Alltagsgegenstand wie Smartphone oder Kreditkarte. Das jährliche | |
Haushaltseinkommen der Mittelschicht liegt bei umgerechnet 15.000 Euro und | |
höher. | |
Etwa einem Viertel der chinesischen Bevölkerung ist es unter der Führung | |
der KP in den vergangenen 20 Jahren gelungen, der Armut zu entfliehen. | |
Chinas neue Mittelschicht zählt inzwischen etwa so viele Menschen wie die | |
EU. Und sie kann sich einen Lebensstil leisten, der sich nicht mehr weit | |
von dem der Menschen in den westlichen Industrieländern unterscheidet. Sie | |
müssten also zufrieden sein. | |
Dennoch wächst der Unmut, der sich momentan vor allem noch übers Internet | |
äußert. Die Luft ist schlecht, den heimischen Lebensmitteln kann man | |
angesichts der vielen Skandale nicht trauen. Die Behörden sind korrupt. Die | |
Sitten verrohen. Erst neulich sei sie von einem BMW angefahren worden, in | |
dem ein 20-Jähriger am Steuer saß, schreibt eine junge Bloggerin. Der | |
Fahrer habe sich nicht einmal entschuldigt. | |
Luxusprobleme einer Generation, deren Eltern und Großeltern vor 20 Jahren | |
noch nicht ausreichend Essen auf dem Tisch hatten? Für die vor 15 Jahren | |
bei einem Besuch bei McDonald’s noch ein ganzer Wochenlohn draufging? Und | |
wie viele von ihnen konnten sich vor zehn Jahren eine Reise nach Hongkong | |
zum Shoppen oder nach Thailand zum Sonneauftanken leisten? Nicht viele. | |
## Zum Sonnen nach Thailand | |
Auch wenn es mangels zuverlässiger Umfragen keine aussagekräftigen Daten | |
gibt – wer sich mit ProtagonistInnen dieser neuen Mittelschicht unterhält, | |
bekommt den Eindruck: Vor allem die jungen Menschen scheinen sehr viel | |
unzufriedener zu sein als früher. Dabei geht es ihnen materiell besser als | |
jemals zuvor. | |
Aus westlicher Sicht liegt der Gedanke nahe, dass mit zunehmendem Wohlstand | |
und höherem Bildungsniveau auch die immateriellen Ansprüche steigen. Wer | |
nicht von morgens bis abends auf den Feldern ackern oder täglich 14 Stunden | |
in Textilfabriken und Bergwerken schuften muss, der kann sich auch Gedanken | |
machen über Dinge, die über die tägliche Reisschale hinausgehen. In Chinas | |
Großstädten ist eine Generation herangewachsen, die keine Armut mehr | |
erlitten hat. Und diese jungen Menschen wollen nicht mehr nur als | |
Arbeitskräfte und Konsumenten wahrgenommen werden, sondern auch | |
mitbestimmen. | |
An dieser Erklärung ist sicher viel dran. Aber sie greift zu lang. Denn | |
tatsächlich sind im Zuge der rasanten ökonomischen Entwicklung ganz | |
konkrete Nöte des Alltags entstanden, auf die Chinas Führung keine | |
politischen Lösungen bietet. | |
## Miethaie in Schanghai | |
Wer heute in Peking oder Schanghai in einer Mietwohnung lebt, ist gnadenlos | |
der Willkür von Miethaien ausgesetzt. Um 20 Prozent im Jahr haben sie in | |
den vergangenen Jahren im Schnitt die Preise angehoben. Einen Mieterschutz | |
vor Eigentümern hat es in der Volksrepublik nie gegeben, weil bis in die | |
90er Jahre gar kein Wohneigentum erlaubt war. Der Immobilienmarkt ist | |
inzwischen liberalisiert. Die Gesetze wurden aber nicht angepasst. Heute | |
drängt es daher bereits 23-Jährige zum Kauf einer eigenen Wohnung. Und fast | |
immer springen Verwandte ein, um mit großer Mühe das Geld | |
zusammenzukratzen. | |
Oder die Krankenversorgung: Noch bis in die späten achtziger Jahre hinein | |
verfügte die Mehrheit der städtischen Bevölkerung über einen staatlich | |
finanzierten Krankenschutz. Damals kamen die Staatsunternehmen für den | |
Schutz ihrer Angestellten auf. Im Privatsektor gilt dieser Schutz nicht. | |
Für ihn arbeitet aber inzwischen die Mehrheit. Eine neue Regelung befindet | |
sich erst im Aufbau. Bis dahin gilt in den Krankenhäusern das Prinzip | |
„Hongbao“, rote Umschläge, in denen Bestechungsgeld steckt. Wer kann, legt | |
einen Großteil seines Vermögens zurück. Die Menschen sorgen sich, im | |
Krankheitsfall die Ärzte nicht ausreichend bestechen zu können. | |
Und selbst auf Kindern lastet inzwischen ein enormer Druck. Vor Chinas | |
ökonomischer Liberalisierung war die Schulausbildung in den Städten | |
weitgehend gleich. Wer aber heutzutage nicht auf eine gute Schule kommt, | |
später bei der zentralen Eingangsprüfung für die Unis schlecht abschneidet | |
und nach dem Studium nicht gleich einen gut dotierten Job findet, droht auf | |
der Strecke zu bleiben. | |
Dieser Leistungsdruck beginnt bereits im Kindergarten. Die Kinder werden | |
schon früh mit Fremdsprachen- und Schriftzeichenunterricht gequält, bereits | |
im frühen Teenageralter belegen viele bis spät abends Zusatzkurse, sodass | |
viele von ihnen an Schlafmangel leiden. Was hinter diesem Ehrgeiz der | |
Eltern der neuen Mittelschicht steckt: Sie haben Angst, dass ihre Kinder | |
den einmal erworbenen Wohlstand wieder verlieren. | |
## Den Reichen ausgeliefert | |
Diese Beispiele zeigen: Ökonomisch und gesellschaftlich hat sich im Reich | |
der Mitte in den vergangenen Jahren jede Menge getan – politisch herrschte | |
jedoch Stillstand: Sozial Schwächere sind den Reichen ausgeliefert, Beamte | |
bestechlich, auf das Rechtssystem ist weiterhin kein Verlass, es grassiert | |
die Korruption. | |
Chinas regierende Kommunisten haben unter der Führung des in diesen Tagen | |
abtretenden Parteichefs Hu Jintao politische Reformen weitgehend | |
unterlassen. Sollte die neue Führung um Xi Jinping nicht anders vorgehen, | |
riskiert sie noch mehr den Unmut der neuen Mittelschicht. | |
Schon jetzt hat eine Abstimmung mit den Füßen eingesetzt. Genaue Zahlen | |
gibt es keine. Aber wen man auch fragt: Wer es sich leisten kann, möchte | |
wegen der Unsicherheiten das Land verlassen. Zahlen sind lediglich von zwei | |
Gruppen bekannt: Unter den derzeit rund 1,4 Millionen Millionären denken | |
laut einer Umfrage 60 Prozent an Auswanderung. Und für Aufsehen hat vor | |
kurzem die Zahl 18.000 gesorgt. So viele Funktionäre sollen sich auch | |
staatlich kontrollierten Medien zufolge in den vergangenen Jahren ins | |
Ausland abgesetzt haben. Und sie dürften über den Zustand des Landes ja am | |
besten Bescheid wissen. | |
13 Nov 2012 | |
## AUTOREN | |
Felix Lee | |
## TAGS | |
China | |
Mittelschicht | |
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