# taz.de -- Parteitag der Grünen: Trittins Symphonie | |
> Auf ihrem Parteitag ordnen sich die Grünen so bedingungslos wie nie dem | |
> heimlichen Chef Jürgen Trittin unter. Die Delegierten fügen sich brav in | |
> sein Finanzkonzept. | |
Bild: Der Maestro bedankt sich beim Publikum, hinter ihm die zweite Spitzenkand… | |
HANNOVER taz | Jürgen Trittin hebt die Arme und hält den jubelnden | |
Delegierten die offenen Hände hin. Ihr habt das entschieden, heißt diese | |
Geste, ihr habt mich zum Spitzenkandidaten gemacht. Trittin steht vorn auf | |
der grünen Bühne, neben sich die lächelnde Katrin Göring-Eckardt, vor sich | |
knapp 800 jubelnde Delegierte. Rockige Musik dröhnt aus den Lautsprechern. | |
Er umarmt seine Parteifreundin, so wie er das eben tut, sehr, sehr | |
ungelenk. Dann zerren beide an einem grünen Schal, den sie für die | |
Fernsehkameras schwenken sollen. Hin und her, ein, zwei Sekunden, dann | |
lässt Trittin den Schal los. Kurz kommt einem der Gedanke, dass Pathos in | |
Hannover einfach schiefgehen müsse, zumal mit dem steifen Trittin, doch | |
dies nur am Rande. | |
Trittin wird seiner Partei in den nächsten Minuten erzählen, wo es | |
langgehen soll im Wahlkampf. Um die wichtigste Führungsfigur der Grünen ist | |
es einsam geworden. Die Mitglieder haben mit der Urwahl die Vorsitzende | |
Claudia Roth in die Ecke gestellt und Fraktionschefin Renate Künast | |
abgewertet. Jetzt steht Trittin, 58, Ex-Umweltminister und längst | |
heimlicher Vorsitzender der Grünen, so unangefochten alleine vorn wie noch | |
nie. | |
Über den drei Tagen in Hannover, bei denen die Grünen sozialpolitische | |
Beschlüsse für den Wahlkampf fassten, lag die passende Melodie: Die Partei | |
ordnete sich Trittin bedingungslos unter. Alles, was passierte, passte in | |
Trittins Symphonie. Er ist der Dirigent, und die Grünen haben seinen | |
Taktstock so verinnerlicht, dass sie das Stück wie von selbst mitspielen. | |
## Grüne Laubsägearbeit | |
Trittin, 58, graumelierter Anzug und feingestreiftes Hemd, geht mit | |
schnellen Schritten auf die Bühne ans Mikrofon. Die Grünen haben sie von | |
ihrer Werbeagentur ausstaffieren lassen, das Ganze sieht aus wie ein | |
Laubsäge-Set aus dem Manufactum-Katalog. Ein Rentnerpärchen, Arm in Arm. | |
Ein Mann schiebt einen Kinderwagen. Ein Junge hält Schmetterlinge an einer | |
Leine und fliegt durch die Luft. Wir kümmern uns um alle, lautet die | |
Botschaft. | |
Trittin steckt die Rechte in die Hosentasche und pickt mit der Linken in | |
die Luft. Die Grünen seien schon für die Frauenquote gewesen, als bei der | |
Union die Frauen nur zum Servieren an den Tisch kommen durften, ruft er. | |
„Wir haben die Mitte der Gesellschaft nach Grün verschoben.“ Dies ist seine | |
Antwort auf die Sehnsucht des politischen Feuilletons nach Schwarz-Grün. | |
Nicht die Schwarzen haben die Deutungshoheit über die Mitte. Nicht die | |
Grünen müssen sich auf die Konservativen zubewegen, sondern der Mainstream | |
hat sich auf die Grünen zubewegt. Das ist ein großer Unterschied. | |
Weg aus der Nische, das ist Trittins Projekt. Seit Jahren trimmt er seine | |
Partei auf Realismus, auf das Machbare. Er will Anschlussfähigkeit durch | |
haushalterische Seriosität. In der Fraktion leitete er eine Arbeitsgruppe, | |
die einen Finanzplan für die Regierungsübernahme errechnete. Die Fraktion | |
presste danach grüne Programmatik in dieses Schema. Und lernte, wie | |
schmerzhaft es ist, auf teure Herzenswünsche zu verzichten. | |
## Trittins Nagelprobe | |
Wenn man so will, ist Hannover die Nagelprobe für Trittins Weg. | |
Sozialpolitik kostet Milliarden, den Delegierten, die sowieso etwas linker | |
ticken, ist die Pragmatik der Finanzler fremd. Für den Chef, der | |
Vizekanzler werden will, geht es um die Frage: Folgen die Grünen seinem | |
Plan? | |
Samstagmorgen, 8.30 Uhr, die Delegierten setzen sich hinter ihren | |
telefonbuchdicken Papierstapeln zurecht. Nun geht es gut vier Stunden lang | |
um das Großthema des Parteitags. 28 eng beschriebene Seiten hat der Antrag | |
des Bundesvorstandes, den sie am Ende mit großer Mehrheit beschließen. Er | |
gießt in Form, was die Grünen teils seit Jahren fordern. Einen Mindestlohn, | |
einen Hartz-IV-Regelsatz von 420 Euro und eine Bürgerversicherung. Alles | |
ist gegengerechnet – und kein Problem für Trittin. | |
Viel interessanter aber ist, was die Grünen nicht beschließen. Oder das, | |
was sie im Regierungsfall erst einmal auf die lange Bank schieben wollen. | |
Die Kindergrundsicherung gehört dazu, die staatliche Hilfen für Kinder | |
unbürokratisch zusammenlegen soll, ein Lieblingsprojekt von Trittins | |
Ko-Fraktionschefin Künast. Aus dem „zügig einführen“ im Gegenantrag, den | |
auch Göring-Eckardt unterschrieb, wird eine windelweiche Formulierung in | |
der Beschlusslage. Zu teuer. | |
Ähnlich ergeht es anderen Ideen, die den vom Chef vorgegebenen Finanzrahmen | |
hätten sprengen können. Oder die das Bild der durch und durch vernünftigen | |
Partei gefährdet hätten. | |
## Neue Fügsamkeit | |
Die Delegierten stimmen routiniert gegen den Kreisverband Hagen, der es | |
wagt, einen Spitzensteuersatz von 53 Prozent zu fordern. Sie votieren nur | |
deshalb für die schnelle Anhebung des Hartz-IV-Regelsatzes, weil der | |
Sozialpolitiker Markus Kurth eine schlaue Finanzierungsidee mitliefert. Ein | |
Musterbeispiel grüner Fügsamkeit liefert der Kreisverband | |
Friedrichshain-Kreuzberg. Seinen Antrag für einen Regelsatz von 474 Euro, | |
den der Sozialverbände, zieht er lieber gleich selbst zurück, statt ihn zur | |
Abstimmung zu stellen. Wie schlimm ist es um die Grünen bestellt, wenn | |
selbst Friedrichshain-Kreuzberg kuscht. | |
Es hat etwas Gespenstisches: Die Grünen debattieren über Sozialpolitik, | |
doch im Grunde sind sich alle einig – bloß nicht aufmucken. Dies lässt sich | |
mit der sorgsam orchestrierten Regie unter Bundesgeschäftsführerin Steffi | |
Lemke erklären, einerseits. Aber auch: Die Grünen haben Trittins seriöse | |
Strategie so sehr verinnerlicht, dass sie ihr freiwillig folgen. | |
Manch Grüner sucht in dieser Fügsamkeit das Positive. Es sei doch nur gut, | |
dass sich die Partei brav an den Finanzrahmen halte, argumentiert eine | |
Abgeordnete beim Bier. So würden die Vorhaben für eine Regierung immerhin | |
demokratisch abgestimmt. „Bei einer langen Wunschliste suchen am Ende | |
Trittin und Steinbrück alleine aus, was sie machen.“ So kann man das | |
natürlich auch sehen. | |
Ein vergnügt wirkender Trittin steht nach der Sozialdebatte in der | |
Cateringhalle. Trügt der Eindruck, dass der Parteitag sehr brav seiner | |
Strategie folgt? „Na ja“, sagt Trittin. Erklärt dann ausführlich, dass das | |
Konzept der Kindergrundsicherungs-Fans nicht komplett gegenfinanziert | |
gewesen sei. | |
Dann sagt er noch einen wichtigen, sehr pragmatischen Satz: „Der Wille zur | |
tatsächlichen Veränderung ist radikaler als ein lautes Bekenntnis.“ Und | |
Trittins Wille ist inzwischen auch der seiner durch und durch vernünftigen | |
Partei. | |
18 Nov 2012 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
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