| # taz.de -- Senioren-Know-How: Die kristalline Intelligenz der Alten | |
| > Die Republik altert und alle schauen zu. Dabei geht etwas häufig unter: | |
| > das ungeheure Potenzial, das ältere Menschen entfalten können. | |
| Bild: „Wer in die Gesellschaft aktiv integriert ist, sein Hirn trainiert, mit… | |
| DORTMUND taz | „Der Nachhaltigkeitsgedanke ist beim Konsumenten gerade | |
| allgegenwärtig“, sagt Bernd Tuchen. „Da müssen wir jetzt ansetzen, | |
| klarmachen, dass Nachhaltigkeit Ihre Kernkompetenz ist.“ Der Mann, der die | |
| Lage so gut erkannt hat, steht in der Oelberger Taschenmanufaktur. Das | |
| junge Taschenlabel schneidert aus Reststoffen wie Veranstaltungsbannern | |
| Taschen, genauer: Unikate. | |
| Die Besitzerin aber hat keine Idee mehr, wie sie mit ihrer Marke den Sprung | |
| über Wuppertal hinaus schaffen soll. Für Tuchen ist die Sache dagegen klar: | |
| Unternehmen müssen in den sozialen Medien präsent sein und eine ordentliche | |
| Homepage haben. | |
| Der Mann war Kommunikationsmanager von Ford Europa. Jetzt, da er 63 Jahre | |
| ist, schickt ihn der Senior Experten Service los. Das Netzwerk organisiert | |
| deutschlandweit einen Pool aus Personen mit viel Know-how – aus 10.000 | |
| Senioren. Sie bringen Unternehmen kostenlose Hilfe zur Selbsthilfe. Je nach | |
| Wunsch in der chinesischen Automobilwerkstatt – oder im deutschen | |
| Kindergarten. | |
| Der aktuelle Demografiebericht der Bundesregierung gibt Anlass zur Sorge. | |
| 2010 waren noch 21 Prozent der Deutschen 65 Jahre und älter, im Jahr 2060 | |
| wird jeder Dritte zur Generation Ü 65 zählen. Doch Entwürfe, wie sich die | |
| Erfahrungen der Alten bewähren, sind noch nicht in der Gesellschaft | |
| angekommen. Deutschland altert – und alle schauen in Schockstarre zu. | |
| ## „Erfahrungen älterer Menschen bieten Chancen“ | |
| Bernd Tuchen, groß, kräftige Statur, fester Händedruck, ist eine Ausnahme | |
| unter den Seniorexperten. Die meisten der Berater werden eher für „softe“ | |
| Aufgaben im Bildungsbereich angefordert – er hilft UnternehmerInnen mit | |
| harten betriebswirtschaftlichen Ratschlägen. „Die meisten Unternehmen | |
| hierzulande haben die Einstellung: Ich frage doch keine alten Leute, wie | |
| ich meinen Betrieb zu führen habe“, sagt Tuchen. | |
| „Die Betriebe werden gerade erst auf die Chancen aufmerksam, die | |
| Erfahrungen älterer Menschen bieten“, weiß auch Bernd Tippelt. Noch immer | |
| hört der Bildungsforscher von der Ludwig-Maximilian-Universität München von | |
| älteren Menschen in seinen Befragungen die Aussage: Lernen lohnt sich für | |
| mich nicht mehr. „Das ist ein fatales Altersbild, das zwar an Bedeutung | |
| verliert, aber noch immer in vielen Köpfen steckt“, sagt Tippelt. | |
| Er glaubt zwar, dass die meisten Unternehmen ältere Menschen künftig schon | |
| aus betriebswirtschaftlichen Gründen besser einbinden müssen. Doch noch | |
| herrsche teilweise die Einstellung, dass Lernen für ältere Menschen keinen | |
| gesellschaftlichen Nutzen haben kann, Senioren nur aus Eigennutz lernen. | |
| Anfangs wollte Renate Fährenkämper auch nur für sich selbst lernen. 2006 | |
| fing die damals 61-Jährige ein Seniorenstudium an der Technischen | |
| Universität Dortmund an. „Ich wusste, wenn ich irgendwann aufhöre, | |
| neugierig zu sein, ist es nicht mehr weit bis zum Ende“, sagt sie. Mit | |
| lachsfarbenem Blazer über enger Satinhose und den wachen blauen Augen wirkt | |
| sie noch äußerst agil. | |
| ## Deutsche Senioren und ausländische Stunden | |
| Schon bald reichte ihr aber auch das Studium der Psychologie und | |
| Alterspädagogik nicht mehr aus. Sie schuf mit einer Kommilitonin gemeinsam | |
| ihre eigene Initiative: Das Patenschaftsprojekt für Seniorenstudierende und | |
| Internationale Studierende. Fährenkämper nutzte nun die erlernten | |
| soziologischen Grundlagen aus den Seminaren, um jeweils einen deutschen | |
| Senior und einen jungen ausländischen Masterstudent zu einem Tandem zu | |
| verbinden. | |
| „Ich bin hier in Deutschland erst richtig angekommen, als ich Renate | |
| kennengelernt habe“, sagt Jiafei Zhang. Der Chemieingenieur lebt seit sechs | |
| Jahren in Dortmund, anfangs ohne ein einziges Wort Deutsch zu können. Im | |
| Patenschaftsprojekt lernte er Fährenkämper kennen. Sie nahm sich des jungen | |
| Chinesen an. | |
| Mit Deutschen in seinem Alter habe er nicht so viel zu tun, sagt Zhang. Er | |
| habe zwar anfangs versucht, Kontakt aufzubauen, doch die Sprachbarriere war | |
| groß und die deutschen KommilitonInnen nahmen sich nicht so viel Zeit mit | |
| ihm. „Aber es ging auch so“, sagt Zhang und grinst. Der Chemieingenieur hat | |
| vor kurzem seine Doktorarbeit zur unterirdischen Speicherung von | |
| Kohlenstoffdioxid abgeschlossen. Gerade hat er einen Forschungsauftrag am | |
| Londoner Empire College angenommen. | |
| Die Kraft zu dieser Hochleistung zog er auch aus der Tandembeziehung zu | |
| Renate Fährenkämper. Egal wohin die Seniorin mit Zhang loszieht, ob in die | |
| Museen des Ruhrgebiets, auf die Documenta oder ins Theater – für den | |
| 29-Jährigen macht das mittlerweile ein Stück Heimat aus. „Wenn es geht, | |
| möchte ich nach Deutschland zurückkommen und hier arbeiten“, sagt Zhang. | |
| ## Immer am Puls der Zeit | |
| Wenn Fährenkämper an Jiafei Zhangs Erfolge denkt, legt sich ihr kleines, | |
| gebräuntes Gesicht in Falten, Fährenkämper ist mächtig stolz auf ihren | |
| jungen Patenzögling. „Das ist natürlich ein Ziel unseres Projekts, die | |
| jungen Leute auch nach ihrer Ausbildung hier zu halten“, sagt sie. Doch im | |
| Grunde sind die Patenschaften für die wissensdurstige Seniorin auch Vehikel | |
| für etwas, das ihr gegen Ende ihrer 40-jährigen Berufslaufbahn verwehrt | |
| blieb: immer neue Erfahrungen am Puls der Zeit zu machen. | |
| Ihr Chef, unter dem die gelernte Vermessungstechnikerin 22 Jahre lang | |
| Projektleiterin eines Dortmunder Ingenieurbetriebs war, wollte Fährenkämper | |
| keine PC-Fortbildung zugestehen. „Er sagte, man müsse nicht alles selbst | |
| machen können, ich müsse nicht mehr unbedingt lernen, mit den modernen | |
| Zeichenprogrammen umzugehen“, sagt Fährenkämper. | |
| Sie sollte nicht mehr alles beurteilen können, eine Situation, die die | |
| Dortmunderin so nicht akzeptieren konnte. Als Rentnerin verschafft sie sich | |
| heute einfach selbst den Zugang zu Wissen – etwa indem sie mit dem | |
| tunesischen Masterstudierenden im Projekt über die politischen Umbrüche in | |
| seiner Heimat diskutiert. | |
| Das ist es auch, was Bernd Tuchen an seinem heutigen Leben als älterer | |
| Experte so schätzt. Er entschied sich bewusst, schon mit 60 Jahren aus | |
| seinem Job auszusteigen. „Aber eine Atempause? Nein, die hätte ich nicht | |
| vertragen“, sagt der ehemalige Manager, der bei Ford selten zum | |
| Durchschnaufen kam. „Nur: Jetzt bestimme ich mein Atemtempo selbst.“ | |
| ## Immer wieder eine Herausforderung | |
| Tuchen ist nicht nur selbst Senior und Fachmann, er koordiniert auch die | |
| Einsätze anderer Rentner für den Senior Experten Service NRW in Bonn. Dort | |
| geht es fast so international zu wie bei Ford. Tuchen führt die | |
| registrierten Seniorexperten mit deutschen, chinesischen, kasachischen, | |
| indischen oder pakistanischen Unternehmen zusammen, die um Unterstützung | |
| gebeten haben. „Das ist immer wieder eine Herausforderung, aber wir haben | |
| nur wenige gescheiterte Einsätze“, sagt Tuchen. | |
| Beide, Renate Fährenkämper wie auch Bernd Tuchen, gehören zu einem Typ | |
| aktiver Senioren, die Bildungsforscher die „Ehrenamtler“ nennen. Sie wollen | |
| das, was sie ihr Leben lang gelernt haben, in die Gesellschaft zurückgeben. | |
| Sie laufen dabei zu Hochform auf, die sie vielleicht während ihres gesamten | |
| Berufslebens so gar nicht kannten. | |
| Denn die sogenannte kristalline Intelligenz, also die Fähigkeit, geschickt | |
| zu kommunizieren, Abläufe zu planen und zu koordinieren, nimmt bei aktiven | |
| Personen bis ins hohe Alter zu. Sie werden immer besser, in dem, was sie | |
| tun, auch wenn sie irgendwann kein Geld mehr bekommen. Die Währung, in der | |
| sie dafür entlohnt werden, heißt Anerkennung. | |
| Volkswirtschaftlich betrachtet ist es ein günstiges Geschäft: Mehr | |
| Bildungsangebote für Senioren und Möglichkeiten, beruflich aktiv zu | |
| bleiben, halten nicht nur wertvolles Wissen und Erfahrung offen. „Wer in | |
| die Gesellschaft aktiv integriert ist, sein Hirn trainiert, mit | |
| Herausforderungen konfrontiert wird, bleibt länger fit“, sagt | |
| Bildungsforscher Tippelt. Aktive Senioren würden statistisch gesehen | |
| seltener krank oder gar pflegebedürftig. Und verursachen somit – nüchtern | |
| gesehen – weniger Kosten. | |
| Seniorenbildung kann Pflegepläne nicht ersetzen. Die Politik muss Lösungen | |
| finden, wie die zunehmende Anzahl todkranker und arbeitsunfähiger Menschen | |
| gut versorgt werden kann, ohne dass jüngere Generationen darunter | |
| zusammenbrechen. Doch Bildungsforscher Tippelt glaubt, dass die | |
| Gesellschaft langfristig ebenso Probleme bekommt, wenn sie den alternden | |
| Bürgern nicht das Gefühl gibt, gebraucht zu werden. | |
| 15 Dec 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Karen Grass | |
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