| # taz.de -- Kulturspezifische Altenpflege: Sprachbarrieren im Pflegeheim | |
| > Die Zahl der älteren Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland | |
| > steigt. Doch viele ausländische Familien tun sich schwer mit stationärer | |
| > Pflege. | |
| Bild: Das multikulturelle Seniorenzentrum „Haus am Sandberg“ in Duisburg ni… | |
| Schon länger ist klar, dass viele Gastarbeiter im Alter nicht in ihre | |
| Heimat zurückkehren werden. Wie Burhan Sengüler. Der 65-Jährige wollte | |
| seinen Lebensabend eigentlich in der Türkei verbringen. „Bis ich einen | |
| Schlaganfall bekam. Der hat mir alles kaputtgemacht.“ | |
| Vor fünf Jahren zog er in Berlin-Kreuzberg in das damals neu gegründete | |
| Türk Bakim Evi, das Haus des Wohlbefindens. Die Einrichtung spezialisierte | |
| sich auf kulturspezifische Pflege, die auf die besonderen Bedürfnisse | |
| älterer Menschen mit Migrationshintergrund eingehen will. | |
| Doch das erste türkische Pflegeheim Deutschlands fand bei seiner Zielgruppe | |
| wenig Anklang. Nach zwei Jahren waren nur etwa die Hälfte der Betten | |
| belegt. 2012 gab die Einrichtung das kulturspezifische Konzept auf und | |
| nannte sich Pflegehaus Kreuzberg. | |
| Laut Statistischem Bundesamtes gab es 2009 in Deutschland über 200.000 | |
| Pflegebedürftige mit Migrationshintergrund. Die Zahl steigt. Experten | |
| diskutieren deshalb bereits seit einiger Zeit über kultursensible Pflege, | |
| seit 2008 steht das Konzept im Gesetz zur Pflegeversicherung. Auch die | |
| Politik nimmt sich des Themas an: So hat sich Berlins Integrationssenatorin | |
| Dilek Kolat (SPD) das Schicksal älterer MigrantInnen zur Aufgabe gemacht. | |
| ## „Interkulturelle Öffnung der Altenpflege“ | |
| Und im grün-rot regierten Baden-Württemberg spricht das Sozialministerium | |
| über die nötige „interkulturelle Öffnung der Altenpflege“ – im südlic… | |
| Bundesland werden 2020 mehr als 300.000 Menschen mit Migrationshintergrund | |
| älter als 65 Jahre sein. Doch noch hapert es bei der Umsetzung des neuen | |
| Pflegeleitbildes. Nicht zuletzt, weil die Heimunterbringung in vielen | |
| Familien auf Vorbehalte stößt. | |
| Sengüler hingegen fiel der Umzug leicht. „Mein linker Arm war gelähmt, ich | |
| konnte mich nur mühsam alleine versorgen“, erzählt er. Da er in Scheidung | |
| von seiner Frau lebte und auch die Tochter wenig Zeit hatte, kam ihm das | |
| Heim wie gerufen. | |
| Doch Menschen, die in der Seniorenarbeit tätig sind, können viel darüber | |
| erzählen, warum sich beispielsweise türkische Familien mit stationärer | |
| Pflege schwertun. Der familiäre Zusammenhalt sei traditionell groß und | |
| viele der Meinung, dass die Kinder die Alten pflegen sollten. So ist das | |
| Gerede der Nachbarn groß, wenn doch jemand ins Heim zieht. | |
| „Pflegebedürftige bleiben oft so lange zu Hause, bis es gar nicht mehr | |
| geht“, sagt Meltam Baskaya vom Kompetenzzentrum für interkulturelle Öffnung | |
| der Altenhilfe in Berlin. „Das Heim will man vermeiden.“ | |
| Beliebter sind ambulante Pflegedienste. Oma oder Opa bleiben in ihrer | |
| gewohnten Umgebung, aber die Angehörigen werden entlastet. Bewährt haben | |
| sich dabei interkulturelle Pflegedienste. Gezielt werben sie mit Pflegern, | |
| die selbst Migrationshintergrund haben, mehrere Sprachen sprechen und das | |
| richtige Begrüßungsritual kennen oder wissen, dass man in manchen Wohnungen | |
| die Schuhe vor der Haustür ausziehen soll. Es sind kleine, aber wichtige | |
| Gesten, die es den Familien erleichtern, die Haustür Fremden zu öffnen. | |
| ## Rücksicht nehmen auf den kulturellen Hintergrund | |
| „Türkische Geschäfte“ nennt Güllü Albayrak die Tricksereien, mit denen … | |
| PatientInnen dazu bringt, ihre Medikamente zu nehmen: Geplänkel auf | |
| Türkisch mit viel Körperkontakt. Und schon ist die Tablette | |
| hinuntergeschluckt. Albayrak leitet die interkulturelle Einrichtung Kamil | |
| Tagespflege in Berlin-Schöneberg. Die kleinen Dinge seien wichtig, sagt | |
| sie, Vorlesen in der Muttersprache, Musik aus der Jugendzeit und das | |
| Basteln vor religiösen Festen: „Zu Weihnachten gibt es Sterne, zum | |
| Opferfest Schäfchen.“ | |
| Diese Rücksichtnahme auf den kulturellen und religiösen Hintergrund | |
| vermissen etliche MigrantInnen bei herkömmlichen Pflegeeinrichtungen. | |
| „Viele muslimische Familien bringen jeden Tag selbst gekochtes Essen ins | |
| Heim, weil dort nicht nach den muslimischen Vorschriften gekocht wird“, | |
| sagt Baskaya vom Kompetenzentrum. | |
| Häufig nehmen Familien deswegen lieber das Pflegegeld in Anspruch und | |
| kümmern sich selbst um die Angehörigen. 91 Prozent der türkischen Empfänger | |
| von Pflegeleistungen bevorzugten das Pflegegeld, berichtet beispielsweise | |
| der Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Westfalen-Lippe. | |
| ## Kommunikation ist alles | |
| Die alten Menschen bleiben so in der gewohnten Umgebung, müssen sich nicht | |
| auf anderes Essen und fremde Menschen einstellen. Im Idealfall genießen sie | |
| die Unterhaltung der Familie in der Muttersprache. | |
| In den Heimen wird Verständigung hingegen zum Problem, wenn MigrantInnen | |
| nie gut Deutsch gelernt haben oder es im Alter vergessen. Vor allem | |
| Demenzkranke sprechen oft nur noch die Muttersprache. Doch gute Pflege ist | |
| ohne sprachliche Kommunikation nicht möglich. Baden-Württemberg will | |
| deswegen künftig mehr MigrantInnen für Pflegeberufe gewinnen. | |
| Burhan Sengüler spricht gut und gerne Deutsch. Trotzdem freut er sich, dass | |
| es im Pflegehaus Kreuzberg immer noch viele türkische PflegerInnen gibt. | |
| „Türkisch ist eben meine Muttersprache.“ Mit vielen BewohnerInnen könne er | |
| sich hingegen kaum unterhalten: „Die sind zu alt und verwirrt.“ | |
| 3 Dec 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Franziska Haack | |
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