# taz.de -- Bühnenjubiläum für Gilla Cremer: Das Schauspielunikat | |
> Seit 30 Jahren steht Gilla Cremer mit ihrem Theater Unikate auf der | |
> Bühne. Zum Jubiläum sind nochmals alle Soli der Schauspielerin zu sehen. | |
Bild: Stets und schonungslos präsent: Gilla Cremer im Stück „#Freundschaft�… | |
Hamburg taz | Ein wenig roch es zu Hause immer nach Gummi. Die Eltern | |
hatten einen Reifenhandel. Mit den alten Reifen konnte man wunderbar | |
spielen. Sie und ihre beste Freundin schaukelten darauf, bauten Hütten. | |
Gemeinsam galoppierten sie nach der Schule durch die Vorstadtsiedlung, | |
Fahrräder waren ihre Pferde. Doch natürlich konnte man mit einem echten | |
Pony mehr anfangen. Das fand auch ihre damals beste Freundin. Und tauschte | |
sie aus gegen ein anderes Mädchen. Eines mit einem echten Pferd. Und da war | |
sie wieder nur mehr das „Mädchen vom Reifenhandel“. | |
Sie. Das ist Ruth. Eine Schauspielerin, jetzt so Anfang 60, mit einer | |
bewegten Biografie. Eine, die „keine vernünftige Lebensplanung hatte“, die | |
als Au-pair-Mädchen nach Austin, Texas, ging, schreckliches Heimweh hatte, | |
später beim Theater landete. Eine, die „spielen und reisen“ wollte und mit | |
exzentrischen Regisseuren und allen möglichen Projekten durch die Welt | |
tourte. | |
Doch Ruth, das ist nicht Gilla. Gilla Cremer. Jene Hamburger | |
Theatermacherin und Schauspielerin, die nun ihr 30-jähriges Bühnenjubiläum | |
feiert. Diese mädchenhaft wirkende Frau, die im September dieses Jahres 62 | |
Jahre alt wird; die mit ihrem Bus, ihren puristischen Bühnenbildern und | |
ihren Solostücken durch die Republik – und darüber hinaus – tingelt und e… | |
gutes Dutzend Stücke im Repertoire hat; die zwei Jahre in den USA lebte, in | |
Austin, Texas, später in New York. | |
Und die erst mal überhaupt nicht wusste, was sie machen wollte, dann den | |
Modern Dance für sich entdeckte und schließlich in Amerika Blut leckte für | |
das Theater, schließlich für ein Jahr nach Bali ging und dort bei dem | |
Regisseur Eugenio Barba, einem Schüler von Jerzy Grotowski, Schauspiel | |
lernte. | |
## Ein vielschichtiger Abend | |
Jene charismatische Gilla Cremer ist es, die Ruth eine Gestalt gibt, die | |
für sie ein Leben erfindet, aus dem sie in ihrer Produktion „#Freundschaft“ | |
erzählt. Uraufgeführt hat sie dieses Stück im Juni 2016 mit ihrem Theater | |
Unikate. Regie führte Dominik Günther, einziger Mitspieler ist Gerd | |
Bellmann, ein Pianist und tatsächlich viel mehr als das. | |
Der Abend ist klug, rührend, vielschichtig und – so scheint es – sehr | |
persönlich. Schnell nimmt man Ruths Geschichte privat und dichtet sie Gilla | |
Cremer in die Biografie. Waren ihre Eltern Reifenhändler? Wann genau starb | |
jene beste Freundin, der sie das Stück gewidmet hat? Das kann doch gar | |
nicht so lange her sein. | |
Tatsächlich ist der ganze Abend aber Theater, ist eine fiktive Collage, | |
verkörpert durch Cremers geschicktes Spiel. Ein Spiel, bei dem die Grenzen | |
zwischen Figur, Rolle und Schauspielerin verwischen: Method Acting. | |
Der Amerikaner Lee Strasberg entwickelte diese – sich an der Psychoanalyse | |
orientierende – Lehrmethode Anfang der 1950er-Jahre. Der Schauspieler | |
sollte sich dabei selbst in der Rolle finden, mit ihr verschmelzen und | |
damit die Natürlichkeit und Intensität seines Spiels verstärken. | |
## Melancholische Zeitreise | |
Cremer scheint diese Spielart inhaliert zu haben. Neben Strasbergs | |
Einflüssen wurde für sie die Abhandlung „Für ein armes Theater“ von | |
Grotowski und dessen pure Herangehensweise ans Schauspiel, zur Bibel. | |
Ein weiteres Beispiel: Bei ihrem Stück „Die Dinge meiner Eltern“ erzählt | |
Cremer von einer Haushaltsauflösung, begibt sich auf eine melancholische | |
und heitere Zeitreise in eine Kindheit der 1960er-Jahre. Angefangen beim | |
Schlafen in „Kuschelritzen“ des Elternbetts über die omnipräsente | |
Raufasertapete bis zum unvergesslichen Geruch von Delial-Sonnencreme. Auch | |
da suggeriert sie dem Zuschauer als Agnes eine Schein-Biografie. | |
Manch einer habe, so erzählt Cremer zwischen Schrecken und Verärgerung, sie | |
sogar als „Kommandeuse“ identifiziert: Die Ehefrau des Kommandanten des KZ | |
Buchenwald verkörpert sie in dem gleichnamigen Theaterstück. Letztlich ist | |
so eine absurde und jede Zeitrechnung ignorierende Zuordnung aber ein | |
Beweis dafür, wie großartig Cremers identifikatorische schauspielerische | |
Anverwandlung ist, wie intensiv ihr Theaterzauber wirkt. | |
## Riskantes Wagnis | |
„Odyssee Embryonale – ein Fötodram“ so hieß ihr erstes Stück – und i… | |
bisher einzige Komödie. 1988 ging sie damit auf Tour. Das war der Anfang | |
ihrer Selbstständigkeit, kurz nach der Geburt ihres zweiten Kindes. | |
Das, was wie ein riskantes Wagnis wirkt, ist für Cremer rein logische | |
Konsequenz: „Mit meinem ersten Solostück konnte ich nicht nur zum ersten | |
Mal meine Familie ernähren, sondern konnte mir auch die Zeit so einteilen, | |
wie ich das wollte.“ Natürlich habe sie manchmal mehr, manchmal weniger | |
Energie, aber ganz offensichtlich sei sie „mit ziemlich viel Kraft und | |
Zähigkeit ausgestattet auf diese Welt gekommen“. | |
Ein, manchmal zwei Jahre lang arbeitet die Theatermacherin an einem Stück. | |
Lange sucht sie nach Themen, findet welche und verwirft sie wieder. „Ich | |
muss dafür brennen. Und ich muss mir sicher sein, dass es etwas | |
Allgemeingültiges hat und etwas Zeitloses“ – schließlich sind fast alle | |
Stücke bis heute in ihrem Repertoire. | |
## Große Themen auf karger Bühne | |
Herausgekommen sind bisher Theaterstücke zu Kinderarmut, Mobbing, | |
Freundschaft sowie eines über die Erlebnisse eines KZ-Häftlings aus der | |
Sicht der Tochter genauso wie das Psychogramm einer Nazi-Täterin. Außerdem | |
hat die schmalgliedrige, hochgewachsene Schauspielern eher musikalische | |
Abende über Hildegard Knef und Lale Andersen erarbeitet. | |
Dass ihre Stücke immer beides vereinen: Heiterkeit und Ernst, Traurigkeit | |
und Freude, Leichtigkeit und Schwermut, dass sie einen zu Tränen rühren und | |
laut auflachen, nachdenklich und fröhlich werden lassen, liegt in ihrer | |
besonderen Gabe. In kleine Geschichten gibt sie große Themen hinein, um sie | |
auf karger Bühne – spielerisch, bedrückend und zugleich schonungslos – und | |
stets als Solostücke zu beleben. | |
Das Alleinsein auf der Bühne hat dabei deutlich mehr Nach- als Vorteile: | |
„Es kann dich keiner auffangen, wenn du mal abrutscht, es kann dich keiner | |
anfeuern, wenn du mal schwächelst, es kann dich keiner mitreißen“, sagt | |
Cremer. | |
„Es ist die beste Schauspielübung, die es gibt, weil man dadurch begreift, | |
dass man es sich nicht erlauben kann, die Präsenz auch nur einen Moment zu | |
verlieren.“ Aber ganz allein ist man im Theater nie, und Cremer versteht – | |
und spielt – ihre Stücke „vom ersten bis zum letzten Wort als Dialog mit | |
dem Publikum. Ich betrachte das immer als Gespräch.“ | |
## Weitere 30 Jahre sind ihr zuzutrauen | |
Gilla Cremer ist auch mal in einem „Tatort“ zu erleben, in einem Film von | |
Claudia Garde, Detlev Buck oder Hermine Huntgeburth. Doch in erster Linie | |
ist sie die Gründerin, Produzentin, Autorin und Schauspielerin ihres | |
Theaters Unikate. Viel ist sie auf Tour und hat doch in Hamburg – vorrangig | |
in den Kammerspielen, in denen ab 23. März ihr Bühnenjubiläum gefeiert wird | |
– ein Zuhause, einen Hafen. | |
2008 wurde sie mit dem „Rolf-Mares-Sonderpreis für langjährige und | |
außergewöhnliche Leistungen im Rahmen des Hamburger Theaterlebens“ | |
ausgezeichnet. Von den „schmerzhaften Qualitäten“ ihrer Arbeiten und der | |
„hohen theatralischen und gesellschaftspolitische Relevanz“ sprach Ludwig | |
von Otting, damals kaufmännischer Geschäftsführer des Thalia-Theaters, in | |
seiner Laudatio. | |
Bis heute kümmert sich Gilla Cremer selbst um die Finanzierung ihrer | |
Projekte, kämpft um Probenräume und Spielorte, übernimmt, wenn es sein | |
muss, Öffentlichkeitsarbeit und Werbung. „Mit den Jahren lernt man, sich | |
durchzufuddeln“, beschreibt sie das, ohne einen Funken Verbissenheit. | |
Jetzt ist „Halbzeit“, wie Cremer ihr Jubiläum augenzwinkernd nennt. Das | |
noch weitere 30 Jahre folgen, ist ihr absolut zuzutrauen, dieser | |
energetischen, willensstarken Frau. Aufgewachsen ist sie als viertes von | |
fünf Kindern. „Eine märchenhafte Kindheit in den sieben Bergen“, in | |
Königswinter am Rhein. Einen Reifenhandel hatten ihre Eltern nicht. Ihr | |
Vater war Kaufmann, ihre Mutter Gärtnerin. | |
18 Mar 2018 | |
## AUTOREN | |
Katrin Ullmann | |
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