# taz.de -- Rollenwechsel auf der Bühne: Politik und Drama | |
> Mehrere Wochen lang haben 15 Theaterleute aus der ganzen Welt in Hamburg | |
> an eigenen Projekten gefeilt – aber auch an einem gemeinsamen Stück, das | |
> nun aufgeführt wird. Gerade das Schauspielern war für die RegisseurInnen | |
> eine Herausforderung | |
Bild: RegisseurInnen auf der Bühne | |
HAMBURG taz | Lucía hat schwer zu schleppen. Taschen über Taschen hat sie | |
sich über beide Schultern gehängt und kämpft sich nun durch das Getümmel | |
auf der Straße. Es sieht aus, als ginge ihr so langsam der Mut aus, da | |
stößt sie auf Antonio: Der verdient als Straßenclown sein Geld, indem er | |
Passanten nachläuft und seine Späße mit ihnen macht. Nun aber interessiert | |
er sich für Lucía, und Lucía interessiert sich für ihn – und man wird | |
sehen, wie und ob es mit den beiden irgendwie weitergeht. Erst recht, wenn | |
Lucía erst realisieren wird, dass Antonio taubstumm ist. | |
Lucía Carranza Sotomayor aus Peru und Antonio Cruz aus Mexiko stehen auf | |
der noch leeren Bühne des Hamburger Ernst Deutsch Theaters und proben ihre | |
neuen Rollen. Dass sie schauspielern, ist ungewohnt: Normalerweise stehen | |
sie eher auf der anderen Seite. So entwickelt Antonio zurzeit ein Stück, | |
das sich mittels Videoeinspielungen, aber auch körperlicher Präsenz sowohl | |
an hörende wie an taube Zuschauer richtet. Lucía, auch sie Theatermacherin, | |
arbeitet demnächst mit Opfern politischer Gewalt in Peru zwischen 1980 und | |
2000. Zusammen mit 13 anderen zwischen 19 und 28 Jahren sind sie seit Ende | |
April in Hamburg. In dem knapp zehnwöchigen Workshop-Programm der „The | |
Do-School“ feilen sie an ihren eigenen Theaterprojekten: inhaltlich, | |
technisch und formal, von der finanziellen Kalkulation über Fundraising bis | |
zur Öffentlichkeitsarbeit. | |
Bevor es in ein paar Tagen wieder zurück nach Hause geht, stehen alle | |
zusammen auf der Bühne und zeigen in einem eigenen, nur für diesen einen | |
Abend entwickelten Stück „Borderless 1.7“ ihr eigenes schauspielerisches | |
Können. Was nicht nur einfach war: „Ich habe ja Regisseure vor mir, die | |
sonst andere Leute in Szene setzen und mit Schauspielern und auch Laien | |
ihre Projekte realisieren“, sagt Nils Daniel Finckh, der sozusagen Regie | |
führt über all die RegisseurInnen. „Sie zum Spielen zu führen, das war viel | |
schwieriger als das Interkulturelle: Die kulturellen Grenzen sind gar nicht | |
so hart und auch die religiösen Unterschiede spielten kaum eine Rolle. Wir | |
stammen schon alle aus einer ähnlichen Welt.“ | |
Für ganz eigene Trainingseffekte sorgte schon der dichte Seminarplan – aber | |
auch das Zusammenleben der Teilnehmenden: „Für mich war es recht | |
gewöhnungsbedürftig, so eng zusammen zu sein“, sagt etwa Nadya Mukhina. Sie | |
lacht und reißt sehr theatralisch die Arme hoch: „Diese Amerikaner! Immer | |
ist alles ’great‘ und ’wonderful‘, und sie sind so laut dabei und dann | |
nehmen sie einen ständig in den Arm und küssen einen sogar.“ Und, nach | |
einer kleinen Pause: „Ich komme aus Russland! Wir sind kühl, wir sind | |
distanziert.“ | |
Während des Workshops zettelte sie auf ihrer Facebookseite erst mal eine | |
Diskussion darüber an, warum man sich in Russland nie in den Arm nehme, und | |
was das, übers rein Persönliche hinaus, bedeute: „Daraus ist sehr schnell | |
eine ganz ernste, sehr intensive Debatte geworden“, erzählt sie. | |
Überschwang und Ablehnung, Nähe und Distanz haben durchaus mit ihrem ganz | |
eigenen Anliegen zu tun: Die Russin hat in Hamburg ein Theaterprojekt | |
weiterentwickelt, das sich einerseits mit der Fremdenfeindlichkeit in | |
Russland beschäftigt. Andererseits geht es der Frage nach, warum die | |
Nichtregierungsorganisationen im Land eigentlich so wenig kooperieren – wo | |
sie doch alle unter dem gleichen staatlichen Druck stehen. | |
Brian Bwesigye aus Uganda sucht ein ganz anderes thematisches Feld auf: | |
„Ich plane ein Theaterprojekt für die Straße und für öffentliche Plätze. | |
Wir wollen mit den Menschen über Identität und Unterschiedlichkeit ins | |
Gespräch kommen. Sie zum Reden bringen, ob sie selbst Opfer von | |
Diskriminierungen geworden sind oder ob sie vielleicht schon mal andere | |
diskriminiert und abgewertet haben – und wenn, warum? Die Gespräche | |
dokumentieren wir, wollen sie im Radio und natürlich im Internet, | |
vielleicht auf Youtube veröffentlichen.“ Er spricht von „Flash Theater“: | |
„Unsichtbares Theater, wie es das in Europa gibt, ist in Uganda weitgehend | |
unbekannt. Aber was ein Flashmob ist, weiß jeder.“ | |
Dass auch während der Zeit in Deutschland die mitunter schwerwiegenden | |
Probleme anderswo in der Welt nicht aus der Welt sind, hat die Gruppe | |
erleben können, als die Teilnehmerin aus Ägypten abreiste: „Sondos kommt | |
aus einer sehr politischen Familie, sie hat lange als Journalistin | |
gearbeitet, dann wurde sie wegen ihrer kritischen Haltung immer mehr | |
bedroht und sie entschloss sich, die Mittel des Theater zu nutzen, auch | |
weil man hier mit sehr viel feineren Mitteln arbeiten kann“, erzählt Marie | |
Steinhoff, die für die Kommunikation des Projektes zuständig ist: „In der | |
ersten Phase des Workshops wurde ihre Schwägerin in Kairo verhaftet und sie | |
hat entschieden, dass Familie wichtiger ist, und ist nach Hause geflogen.“ | |
Nils Daniel Finckh klettert auf die Bühne, gibt Anweisungen und bittet | |
darum, doch mehr mit dem Körper zu spielen. Hatten sie sich während der | |
vergangenen Wochen auf Englisch verständigt, sprechen die Teilnehmer jetzt | |
in ihren Muttersprachen, also Spanisch, Englisch, Russisch, Slowenisch, | |
Deutsch – oder eben der spanische Gebärdensprache. So wird es auch am Abend | |
auf der Bühne sein. | |
Die Szene, die jetzt geprobt wird: Rupert hat ein Techtelmechtel mit Lucía | |
– und ist doch seit Kurzem mit Monique liiert. Er wird gespielt von Rupert | |
Philbrick, der sich in seiner nordenglischen Heimat den Wegzug junger Leute | |
und der damit einhergehenden Verödung befasst. Lucía Cholakian Herrera hat | |
vor, mit einem familientauglichen Stück über soziale Ungleichheit durch | |
Argentinien zu touren. Und Monique Hill entwickelt in Südafrika ein | |
Theaterprojekt, das Flüchtlingskindern den Schulbesuch ermöglichen soll. | |
Jenseits aller großen, wichtigen Fragestellungen nimmt ein Drama um Liebe, | |
Enttäuschung und Eifersucht seinen Lauf. „Rupert!“, ruft Finckh: „Du | |
bekommst jetzt jede Menge Probleme. Zeige die! Mit deinem Körper!“ Rupert | |
schaut auf Lucía, schaut auf Monique. Und legt los. | |
## „Borderless 1.7“: Sonntag, 23. 6., Hamburg, Ernst Deutsch Theater | |
20 Jun 2013 | |
## AUTOREN | |
Frank Keil | |
## TAGS | |
Schauspieler | |
Supreme Court | |
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