# taz.de -- Zwei Jahre ohne Präsident: Tunesiens nationale Zerstrittenheit | |
> Vor zwei Jahren forderten die Tunesier das Ende des Regimes Ben Ali. | |
> Jetzt rufen die einen nach einem Islamstaat, die anderen nach Freiheit | |
> und Arbeit. | |
Bild: „Verdufte!“, rufen die Demonstranten. Doch das richtet sich dieses Ma… | |
TUNIS taz | Die Bilder ähneln sich: Zehntausende ziehen durch die | |
Innenstadt von Tunis – wie damals am 14. 1. 2011. Aber anders als an jenem | |
Freitag, an dem der langjährige Präsident Zine el-Abidine Ben Ali nach | |
Generalstreik und Massendemonstrationen die Flucht ins Exil antrat – womit | |
der Arabische Frühling eingeleitet wurde –, bieten die Tunesier heute kein | |
Bild der Einheit. | |
Im Gegenteil: Auf der einen Seite versammelten sich die Anhänger der | |
führenden Regierungspartei, der islamischen Ennahda, auf der anderen die | |
weltlichen Kräfte. Und zwischendrin allerlei radikale Gruppen, von den | |
fanatisch-religiösen Salafisten im Polizeikessel bis hin zur extremen | |
Linken. | |
Dabei hallt heute wie damals der Ruf „Das Volk will …“ durch die Straßen. | |
Doch vor zwei Jahren forderten die Menschen gemeinsam das Ende des Regimes | |
– jetzt rufen die einen nach einem Staat, der den Islam zur Grundlage hat, | |
und die anderen nach einer zivilen Republik, nach Freiheit, Würde und | |
Arbeit. | |
Nur eine Parole führen sie alle nach wie vor im Munde: „Dégage!“ – | |
„Verdufte!“ Doch das richtet sich heute nicht gegen einen Diktator, sondern | |
gegen den jeweiligen politischen Gegner. „Wir fürchten eine neue Diktatur, | |
die schlimmer werden könnte als die alte“, erklärt Habib Kazdaghli. | |
## Salafisten besetzen Lehrstuhl | |
Der Geschichtsprofessor spricht von einer mittelalterlichen Politik, die | |
„sich in alle Bereiche des Lebens einmischen will“. Der Dekan der Fakultät | |
für Literatur und Geisteswissenschaften an der hauptstädtischen Universität | |
muss es wissen: Wochenlang war sein Lehrstuhl von Salafisten besetzt. | |
Die Islamisten forderten, dass Frauen mit Ganzkörperverschleierung | |
studieren, Studenten und Lehrkräfte nach Geschlecht getrennt Unterricht | |
abhalten und ein Gebetsraum eingerichtet wird. Kazdaghli und seine | |
Lehrkräfte weigerte sich – doch obwohl die Salafisten sie dafür mit dem Tod | |
bedrohten, schritt die Polizei lange nicht ein. „Und als sie endlich | |
räumte, verhaftete sie niemanden.“ | |
Stattdessen muss nun Kazdaghli vor den Richter. Er soll Studentinnen | |
geschlagen haben. „Das ist völlig aus der Luft gegriffen“, sagt er und | |
beschuldigt die Ennahda, die Salafisten für ihre Ziele zu nutzen. „Die | |
Regierung führt einen doppelten Diskurs, nach außen geben sie sich | |
gemäßigt, nach innen wollen sie die religiöse Republik.“ | |
Trotzdem ist Kazdaghli optimistisch. „Letztendlich haben wir die | |
Universität verteidigt“, sagt der Dekan, der längst zum Symbol für die | |
weltliche, moderne Zivilgesellschaft geworden ist. Er bezeichnet den Kampf | |
um seine Fakultät als „eine Art Stalingrad für den Islamismus“. | |
## Das modernste Land der arabischen Welt | |
Auch Radhia Belhaj Zekri spricht von „Widerstand“, um Tunesien als | |
„modernstes Land in der arabischen Welt zu wahren“. Ende der 1970er Jahre | |
gründete sie die ersten unabhängigen Frauenorganisationen mit. „Die | |
Ennahda-Regierung versucht, alle Errungenschaften zunichte zu machen“, | |
schimpft die Lehrerin. „Doch bisher haben wir uns erfolgreich gewehrt.“ | |
So musste das Übergangsparlament nach Protesten das islamische Recht ebenso | |
aus dem Verfassungsentwurf streichen wie den Artikel, nachdem Männer und | |
Frauen nicht gleich sind, sondern sich ergänzen. „Es bleibt viel zu tun“, | |
mahnt Belhaj Zekri. In der Verfassung würden die Menschenrechte nicht | |
explizit anerkannt, einige Formulierungen seien unklar, etwa der Satz, der | |
Staat sei „den noblen Zielen des Islam“ verpflichtet. | |
Das wichtigste Ziel sei es nun, diejenigen, die für eine „zivile Republik“ | |
eintreten, zu einen. Zekri ist sich sicher: „Wenn es bei den nächsten | |
Wahlen nur zwei, drei starke Parteienbündnisse gibt, haben die Islamisten | |
keine Chance.“ Die Wahl ist für Ende Juni vorgesehen, auch wenn viele nicht | |
daran glauben, dass das neue Grundgesetz bis dahin fertiggestellt werden | |
kann. | |
Doch der säkulare Einigungsprozess ist in vollem Gange. Das Linke hat sich | |
zur „Front Populaire“ zusammengefunden, das sozialdemokratische Lager zur | |
Republikanischen Partei, mit „Nidaa Tounes“ entstand um Exübergangspremier | |
Béji Caïd Essebsi eine neue starke Kraft. | |
## Religiöse bremsen | |
Mustapha Ben Ahmed ist einer der Gründer dieser Zentrumspartei. Eigentlich | |
ist der Veteran der Gewerkschaft UGTT ein Linker. „Aber es braucht eine | |
solche Partei, um die Religiösen zu bremsen“, begründet Ben Ahmed, warum | |
viele GewerkschaftskollegInnen einer Organisation beigetreten sind, die | |
auch Technokraten des alten Regimes in ihren Reihen hat. Seine Funktion | |
dort sieht er im Kontakt mit den Menschen in den armen Vorstädten und auf | |
dem Land. | |
Auch die Islamisten wissen, dass der Kampf um den neuen Staat außerhalb der | |
urbanen Zentren entschieden wird. Die Salafisten und der Ennahda | |
nahestehende Milizen der Liga zum Schutz der Revolution greifen immer | |
wieder Lokale von UGTT und Nidaa Tounes an. In Tataouine im Süden des | |
Landes wurde sogar ein Parteimitglied getötet. | |
14 Jan 2013 | |
## AUTOREN | |
Reiner Wandler | |
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