| # taz.de -- Tunesien nach der Rebellion: Das Café der verletzten Würde | |
| > Im Café von Tarek Zakraoui versammeln sich jeden Abend Tunesier und | |
| > sprechen über die Rebellion. Geändert hat sich nicht viel, sagen sie. | |
| Bild: Marwen Ayaris (links, mit seiner Schwester Amal) Erinnerung an den Zusamm… | |
| SILIANA taz | „Willkommen im Café der Revolution“, grüßt Tarek Zakraoui. | |
| Wenn der 41-jährige Inhaber der Cafeteria Hollywood von Revolution spricht, | |
| meint er nicht den 14. Januar 2011, als die Tunesier Präsident Zine | |
| el-Abidini Ben Ali verjagten. | |
| Er redet von den Tagen Ende November, Anfang Dezember 2012. „Wir haben den | |
| Gouverneur zum Rücktritt gezwungen“, berichtet er und blickt entschlossen | |
| hinüber auf die andere Seite des Platzes. Dort liegt hinter | |
| Stacheldrahtrollen der Palast des Vertreters der Zentralregierung in der | |
| Kleinstadt Siliana im Landesinneren von Tunesien. Tagelang demonstrierten | |
| die Menschen – mobilisiert von der Gewerkschaft UGTT – auf der Kreuzung vor | |
| dem Hollywood gegen die Untätigkeit der Verwaltung, „gegen Armut, | |
| Arbeitslosigkeit und für Würde“. | |
| „Es hat sich seit 2011 nichts geändert. Wir können jetzt frei reden, das | |
| ist aber auch schon alles“, klagt Zakraoui. „Die soziale Situation hat sich | |
| verschlechtert, die Arbeitslosigkeit nimmt zu, alles wird immer teurer, und | |
| wenn wir uns beschweren, behandeln sie uns wie Tiere.“ Sie, das ist die | |
| Polizei. Am 28. November stürmte eine aus der Hauptstadt Tunis angereiste | |
| Sondereinheit den Platz und drang in das Café ein, schlug auf alles, was | |
| sich bewegte, ein, verschoss Gasgranaten und Schrotmunition. „Meine Frau | |
| Hadia war so geschockt, dass sie zusammenbrach“, sagt Zakraoui. Sie war im | |
| vierten Monat schwanger, die Wehen setzten ein. „Wenige Stunden später | |
| verlor sie unser Kind“, erzählt er mit gedrückter Stimme. | |
| Das Hollywood – oder Holjudd, wie sie es hier aussprechen – ist wie jeden | |
| Abend gut besucht. Überall an den Tischen diskutieren junge Männer bei | |
| einem Glas Tee. Die Blicke schweifen zum Großbildschirm an der Wand. Dort | |
| laufen internationale Musikvideos, in denen Frauen zu HipHop-Rhythmen | |
| sinnlich tanzen. Die Gespräche drehen sich immer wieder um die | |
| Verletzungen, die sie am Tag des Polizeieinsatzes erlitten haben. Viele | |
| zeigen kleine, kaum wahrnehmbare Punkte in der Haut. Darunter ist eine | |
| harte Stelle zu spüren. „Schrotkugeln“, erklären sie. | |
| „Schrotkartuschen gegen Demonstranten einzusetzen ist völlig illegal“, | |
| schimpft der 23-jährige Saifdine Hassni. Ihn erwischten zwei Kügelchen im | |
| rechten Auge. Die Ärzte im Krankenhaus in der Hauptstadt Tunis versuchten | |
| alles, doch sie konnten die Bleiteilchen nicht entfernen. „30 Prozent | |
| Sehkraft habe ich noch“, sagt er. Der schwarz gekleidete Jugendliche schaut | |
| ernst unter einer Mütze eines US-amerikanischen Baseballteams hervor und | |
| zeigt ein Attest. | |
| ## Drei Generationen Protest | |
| „So ist Tunesien. Nichts hat sich geändert“, schimpft auch Hassni. In | |
| seiner Familie hat die Rebellion Tradition. Sein Vater Hassan saß wegen | |
| Protesten gegen Ben Ali in den neunziger Jahren für sechs Jahre im | |
| Gefängnis. Und der Großvater war zuerst gegen die französische | |
| Kolonialmacht und dann gegen den ersten Präsidenten des freien Tunesien, | |
| Habib Bourguiba, aufseiten derer aktiv, die dem arabischen Nationalismus | |
| anhingen, der noch heute in Siliana verbreitet ist. | |
| Saifdine Hassni war selbstverständlich dabei, als Ende Dezember 2010 die | |
| Demonstrationen gegen Ben Ali auch auf Siliana übergriffen. Nach dem Sturz | |
| des Diktators beteiligte er sich an der Besetzung des Platzes vor dem | |
| Regierungspalast in Tunis, der Kasbah. Tausende Jugendliche, die aus dem | |
| Landesinneren angereist waren, erzwangen im Frühjahr 2011 den Rücktritt der | |
| alten Garde aus der Übergangsregierung und die Wahl einer | |
| verfassunggebenden Versammlung. | |
| Jetzt, wo das Übergangsparlament im Amt ist und die islamistische Ennahda | |
| zusammen mit zwei kleineren säkularen Parteien die Geschicke des Landes | |
| lenkt, fühlen sich die Menschen hier in Siliana erneut um ihre Revolution | |
| betrogen und in ihrem Stolz verletzt. „Für die Jugend wird nichts getan. Es | |
| gibt keine kulturellen Veranstaltungen, kein Geld für das Jugendhaus, keine | |
| Arbeit“, beschwert sich Hassni. Er ist seit dem Ende der Schulausbildung | |
| ohne Job. Bei über 25 Prozent liegt die Arbeitslosenquote offiziell in der | |
| Region rund um Siliana mit ihren 230.000 Einwohnern inzwischen. 4.000 junge | |
| Akademiker sind arbeitslos. | |
| Die einzige Möglichkeit in dem von der Landwirtschaft geprägten | |
| 30.000-Einwohner-Städtchen, die Zeit totzuschlagen, ist das Café Hollywood. | |
| Oder man trifft sich irgendwo versteckt mit Freunden, um auf dem | |
| Schwarzmarkt gekauftes Bier oder „Shit“, stark gestrecktes Haschisch, das | |
| über Algerien aus Marokko kommt, zu konsumieren. | |
| „Manchmal ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass unter Ben Ali eigentlich | |
| alles viel besser war“, sagt Amal Ayari nachdenklich. Die 26-jährige, | |
| modern gekleidete Frau trägt ihr langes, dunkles Haar offen. Sie gehört dem | |
| örtlichen Komitee der Opfer der Repression an. Der Grund: Ihr jüngerer | |
| Bruder Marwen, der neben ihr sitzt, wurde in beiden Augen von Schrotkugeln | |
| getroffen und droht vollständig zu erblinden. Mit drei weiteren Verletzten | |
| wurde er nach Frankreich ausgeflogen. „Acht Tage war ich dort in | |
| Behandlung, dann wurde ich von einem Arzt der tunesischen Krankenkasse | |
| gezwungen, zurückzukommen“, berichtet Marwen. Sein ganzer Körper sei voller | |
| Blei. „Am Flughafen spielte der Scanner verrückt“, erzählt der | |
| Mathematikstudent, der wegen seiner Verletzungen die Abschlussprüfung | |
| verpassen wird. | |
| Amal Ayari arbeitet in der Hauptstadt Tunis in der Verwaltung eines | |
| Krankenhauses. Der Job ist Teil eines Arbeitsbeschaffungsprogramms. Sie | |
| erhält umgerechnet 60 Euro pro Monat. Und das, obwohl der tunesische | |
| Mindestlohn umgerechnet 140 Euro beträgt, schimpft sie. Die richtigen | |
| Stellen gingen – sofern sie ausgeschrieben werden – an Anhänger der | |
| islamistischen Ennahda. „Es ist wie einst unter Ben Ali, sie infiltrieren | |
| die gesamte Verwaltung“, beschwert sich Ayari. „Zum Glück habe ich sie | |
| nicht gewählt“, sagt sie dann noch. | |
| Mit dem Komitee der Opfer der Repression will Ayari zumindest eine | |
| Entschädigung für die über 300 Personen, die bei dem Polizeieinsatz | |
| verletzt wurden, erreichen. Der neue Gouverneur, ein Technokrat aus Tunis, | |
| der zum Jahresbeginn eingesetzt wurde, hat die Gruppe sowie Vertreter der | |
| Gewerkschaft UGTT empfangen. Konkrete Zusagen macht er keine. | |
| ## Der Gouverneur hat Angst | |
| Die Verwaltungsbüros im Gouverneurssitz sind mittlerweile wieder geöffnet. | |
| Der Trakt mit dem Büro des Amtsinhabers allerdings liegt hinter einer | |
| verschlossenen Tür. Selbst engsten Mitarbeitern wird nur nach ausdauerndem | |
| Klopfen von einem Polizeioffizier von innen geöffnet. In den Ort traut sich | |
| der Gouverneur nicht. Gesprühte Parolen wie „Fuck Ennahda“ – der Partei | |
| gehört auch er an – oder „Dégage!“ – „Verdufte!“ –, wie sie ein… | |
| Ali zuriefen, zeigen, das er und seine Partei hier nicht willkommen sind. | |
| „Wer eine Nacht länger geschlafen hat, hat einen Betrug mehr hinter sich“, | |
| zitiert Hamed Gantassi ein altes Sprichwort und schimpft auf die Eliten, | |
| die den Übergangsprozess zum neuen Tunesien unter sich bestimmen und die | |
| Jugend, die Ben Ali aus dem Land gejagt hat, einfach übergehen. | |
| Der 25-jährige bärtige, korpulente Hamed ist vieles: Kleinunternehmer, | |
| Musiker, Manager einer Rap-Band, doch vor allem ist er eines: Romantiker. | |
| Bald nach der Revolution 2011 kam er aus Paris nach Siliana. Gantassi ist | |
| hier geboren, kam aber als Dreijähriger mit seinen Eltern nach Frankreich. | |
| „Mein Vater, mit dem ich nur bedingt ideologisch konform gehe, ist ein | |
| führendes Ennahda-Mitglied und floh vor der politischen Verfolgung unter | |
| Ben Ali“, sagt er und erzählt, wie es die Familie in den Pariser Stadtteil | |
| Barbés verschlug. | |
| Jetzt will Gantassi „etwas für die Heimat tun“. „Hier im Landesinneren g… | |
| es gut ausgebildete, junge Menschen, doch es fehlt an Infrastruktur, um | |
| Investitionen anzuziehen und so Arbeitsplätze zu schaffen.“ Er beschwert | |
| sich, dass alle Landwirtschaftsprodukte in Fabriken an der Küste | |
| verarbeitet werden statt vor Ort. Siliana ist kein Einzelfall. 15 Regionen | |
| im Landesinnern haben die gleichen Probleme. Die Straßen sind schlecht. | |
| Ausbaupläne gibt es seit Langem, doch weder Ben Ali noch die neue Regierung | |
| setzt sie um. Die Investoren bleiben deshalb aus. | |
| Gantassi hat es dennoch gewagt und ein Callcenter aufgebaut, in dem 20 | |
| junge Leute arbeiten. Kunde ist ein französisches Unternehmen, das | |
| französische Hausbesitzer per Telefon für Solardächer gewinnen will. | |
| ## Ein Idol wie aus der Bronx | |
| Natürlich war auch Gantassi auf den Demonstrationen, die Papas Parteifreund | |
| aus Siliana jagten. Für eine kleine Gruppe von Rappern – die African | |
| Warriors – ist der junge Mann, der sich kleidet, als käme er aus der Bronx, | |
| ein Idol. Sie hören ihm zu, wenn er von Barbés erzählt, von seiner | |
| problematischen Jugend in Paris, seinen Problemen mit der französischen | |
| Polizei und seinen insgesamt zweieinhalb Jahre Haft in Frankreich. „Als ich | |
| nach Tunesien einreiste, zerriss ich meinen französischen Ausweis“, sagt er | |
| zufrieden. Dort hätten sie ihn ja eh nie akzeptiert. | |
| Mit den African Warriors hat Rap-Manager Gantassi den Traum, einmal ganz | |
| groß herauszukommen. Einen bescheidenen Erfolg hat die Combo bereits | |
| gelandet. Der am PC unter der Marke „Hollywood Studio“ aufgezeichnete und | |
| geschnittene Song „Siliana City“, ist so etwas wie die heimliche Hymne der | |
| Kleinstadt. Der Videoclip zeigt Bilder von den Demonstrationen, den | |
| Polizeiübergriffen und den Verletzten. „Wir gehen nicht zurück, diese | |
| Zeiten sind vorbei, wir bewegen uns, wir gehen weiter, auch wenn uns der | |
| Wind entgegenschlägt, ich bin nicht gebrochen …“, rappen sie sich auf | |
| Englisch und Arabisch Mut zu. | |
| 25 Jan 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Reiner Wandler | |
| Reiner Wandler | |
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