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# taz.de -- Politiker über Tunesien nach Revolution: „Zeit der Zerstörung i…
> Der tunesische Zentrumspolitiker Mustapha Ben Ahmed erklärt, warum die
> neue Demokratie nur mit Mitgliedern der alten Staatspartei aufgebaut
> werden kann.
Bild: Demonstranten in Tunis erinnern im Januar 2013 an den Beginn der Revoluti…
taz: Wie kommt jemand wie Sie, Veteran der Gewerkschaft UGTT, gestandener
Marxist, in den Vorstand einer Zentrumspartei wie Nida Tounes?
Mustapha Ben Ahmed: Das ist das Ergebnis eines Denkprozesses, ausgelöst
durch die politische Situation Tunesiens und durch das Kräfteverhältnis,
das wir nach den ersten freien Wahlen vorfanden. Die islamistische Ennahda
wurde stärkste Partei und ist seither an der Macht. Das hat zu einer sehr
prekären Situation geführt, die die Demokratisierung bedroht. Die
wichtigste Aufgabe ist, eine Kraft aufzubauen, die den Islamisten etwas
entgegensetzen kann, indem sie breite Teile der Bevölkerung und vor allem
die Mittelschichten mobilisiert.
Ist das nicht eine völlige Reduzierung der Politik auf den Konflikt
Religion kontra säkulare Gesellschaft?
Um eine echte Demokratie aufzubauen, braucht es eine gesellschaftliche
Grundlage. Wir brauchen eine Klasse, die für Stabilität sorgt. Erst wenn
das gelungen ist, können wir uns einem echten Pluralismus widmen. Bei den
Islamisten gibt es verschiedene Strömungen, aber sie haben eine gemeinsame
Grundlage gefunden. Es geht ihnen darum, die Scharia einzuführen. Auf der
Gegenseite haben wir das säkularen Lager, das von der extremen Linken bis
zu Liberalen reicht. Der Wunsch nach einer demokratischen, säkularen
Gesellschaft, einer zivilen statt einer religiösen Republik, eint alle.
Jetzt ist dies die wichtigste Frage, alles andere ist zweitrangig.
Nida Tounes hat eine Menge Mitglieder aus dem alten Regime.
Das ist ein sehr vager Vorwurf. Es gibt kein neues Regime, damit können wir
auch nicht von einem alten Regime reden. Verwaltung, Justiz, Polizei und
Armee sind dieselben geblieben. Nur die Staatsspitze hat sich geändert. Wir
hatten eine diktatorische Macht, die in der Hand von Präsident Ben Ali und
seiner Familie lag. Zwei Millionen der knapp elf Millionen Tunesier
gehörten der RCD, der Staatspartei, an. Diese zwei Millionen unterstützten
bei Weitem nicht alle Ben Ali. Sonst wäre die Revolution nicht möglich
gewesen.
Das heißt, Sie wollen die Leute aus der RCD integrieren?
Wir können doch nicht zwei Millionen Tunesier ins Meer treiben. Die
Korrupten und die echten Unterstützer Ben Alis, die sich die Hände
schmutzig gemacht haben, machen höchstens 50.000 aus. Die große Mehrheit
der RCD-Mitglieder litt genauso unter Ben Ali wie der Rest der Tunesier.
Sie sind in der Verwaltung tätig, sie arbeiten in Staatsbetrieben, sind
kleine Händler oder Geschäftsleute. Die gesamte tunesische Gesellschaft
muss sich erneuern, nicht nur diejenigen, die gerne als Leute des Regimes
bezeichnet werden. Denn niemand hier weiß, wie es ist, unter demokratischen
Verhältnissen zu leben.
Der Staat hat sich nicht verändert, die Institutionen sind die gleichen.
Wäre es nicht logischer, für eine totale Revolution zu streiten, statt
Stabilität zu suchen?
Was heißt totale Revolution? Dass sich eine Klasse über die andere erhebt
und sie von der Macht verdrängt? Das war so in der Französischen
Revolution, als das Bürgertum den Feudalismus zerschlug. Ein anderes
Beispiel ist die Oktoberrevolution, in der eine Klasse von Intellektuellen,
die sich mit der Arbeiterklasse identifizierte, das Zarenregime stürzte.
Das letzte Beispiel ist die Iranische Revolution. Mit der Entwicklung, die
die Welt seither durchlaufen hat, mit der Globalisierung liegt die
wirtschaftliche Macht in den Händen bestimmter Lobbys, die meist mächtiger
sind als die Staaten selbst.
Die Frage der Souveränität, die eine der wichtigsten Fragen der Revolution
war, wird immer unbedeutender. Die Veränderungsprozesse sind daher heute
anders als früher. Sie werden von der internationalen Gemeinschaft
beobachtet und begrenzt. Schauen wir nach Osteuropa. Dort wurden die neuen
Demokratien mit den Leuten des alten Regimes aufgebaut.
Ist Osteuropa Ihr Vorbild?
Alle Veränderungen werden so aussehen. Die internationale Gemeinschaft
versucht, Veränderungen friedlich verlaufen zu lassen. Das war in Spanien
nach Francos Tod so. Das ist in Südafrika so, wo eine Formel der Aussöhnung
gefunden wurde. Die Zeit der völligen Zerstörung des Alten, um etwas Neues
aufzubauen, ist vorbei.
Das säkulare Lager redet viel von Modernität. Das hat Ben Ali auch getan.
Für viele Menschen hat sich die soziale Lage dennoch nicht verändert. Die
Islamisten profitieren davon.
Es stimmt, Ennahda nutzt die Armut. Sie sind in den vernachlässigten
Regionen stark. Hinzu kommt die Tradition. Der Islam mischt sich in alle
Bereiche des Lebens ein. Nach der Unabhängigkeit hat der erste Präsident
Bourguiba wichtige Reformen durchgeführt. Aber es entstand dennoch kein
säkularer Staat wie in Europa.
Tunesien zeigt, dass Modernität nicht unbedingt Freiheit bedeutet.
Als Tunesien unabhängig wurde, stand die Frage der Demokratie in der
Dritten Welt nicht auf der Tagesordnung. Um eine Demokratie aufzubauen,
müssen zuerst einmal die Kräfte der Gesellschaft befreit werden, angefangen
bei den Frauen. Es braucht Schulbildung, ein Gesundheitssystem und bessere
Lebensbedingungen. Nur so werden die Menschen tatsächlich in die Lage
versetzt, am öffentlichen Leben teilzunehmen. Das wurde alles erreicht.
Erst in den 1970er Jahren, als die erste Generation der Unabhängigkeit
herangewachsen war, wurde die Forderung nach Demokratie laut. Der Staat
versagte. Er respektierte diese Entwicklung der Gesellschaft nicht.
Und jetzt ist die Gesellschaft für eine demokratische Entwicklung bereit?
Ein Großteil ja, auch wenn es noch immer Teile der Bevölkerung gibt, die in
Armut leben und andere Probleme haben als eine plurale Gesellschaft.
Aber die Islamisten haben die Wahlen gewonnen.
Ja, aber sie sehen sich einem Widerstand der tunesischen Gesellschaft
gegenüber, der die zivilen Errungenschaften verteidigen will – die
Freiheiten, die Rechte der Frauen, das moderne Bildungssystem, eine offene
Kultur. Jetzt geht es darum, diese Kräfte zusammenzufassen.
5 Feb 2013
## AUTOREN
Reiner Wandler
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