| # taz.de -- Steigende Energiekosten belasten Arme: Acht Jahre ohne Strom | |
| > Manche Hartz-IV-Empfänger zahlen fast die Hälfte ihres Regelsatzes für | |
| > Strom. In Kiel helfen Energieberater armen Haushalten beim Stromsparen. | |
| Bild: Teurer Stromfresser: Energieberater suchen nach Einsparmöglichkeiten bei… | |
| KIEL taz | Der Hartz-IV-Satz reicht gerade, wenn man ein bisschen rechnet, | |
| sagen sie. Und dass die Strompreise steigen, das muss eben irgendwie | |
| ausgeglichen werden. Nur irgendwann kommt der Punkt, wo das Sparen nicht | |
| mehr hilft. Und wenn sich dann eine Lücke ergibt, kann es sein, dass | |
| plötzlich das Licht aus ist. | |
| Wann immer Annett Marti duschen geht, nimmt sie eine Eieruhr mit ins Bad. | |
| Die Heiztherme verursacht enorme Kosten. Sie stellt die Uhr ein, erst dann | |
| lässt sie das Wasser laufen. „Einseifen, abduschen, fertig“, sagt sie. Die | |
| Beine rasiert sie anschließend, über einem Eimer mit Wasser. | |
| Als Mohan Rodrigo vor zehn Jahren nach Deutschland kam, holte er sich einen | |
| Fernseher vom Sperrmüll. „So groß war der.“ Er breitet beide Arme aus. Do… | |
| der Ton funktionierte nicht, also stellte er einen zweiten dazu und ließ | |
| beide gleichzeitig laufen. Er lacht laut und fröhlich: „Da war ich stolz | |
| drauf.“ | |
| Das ist lange her. Inzwischen ist Strom ein kostbares Gut geworden. Die | |
| Energiekosten steigen so stark wie lange nicht, um bis zu 20 Prozent allein | |
| zum Jahresbeginn. Vor allem die Energiewende treibt den Strompreis. Diese | |
| Belastung fällt in ärmeren Haushalten deutlich stärker ins Gewicht als in | |
| reicheren. | |
| Kurz vor sieben Uhr am Abend fährt die Linie 4310 unter dem maroden | |
| Betondach des Kieler Busbahnhofs vor. Auf dem Bahnsteigen treten ein paar | |
| Punks auf einen Einkaufswagen ein. Annett Marti schiebt die Hände in die | |
| Taschen ihres roten Anoraks und zieht hinaus in den Nieselregen. Sie hat | |
| eine Stunde Fahrt hinter sich. Einmal in der Woche darf sie ihre beiden | |
| Kinder besuchen, die in einem SOS-Kinderdorf östlich von Kiel leben. Annett | |
| Marti, 37 Jahre, hat eine lebhafte, offene Art, ihre bipolare Störung ist | |
| ihr nicht anzumerken. Doch die Krankheit nimmt ihr die Kraft, sie macht es | |
| ihr unmöglich, für ihre Kinder zu sorgen und in ihrem Beruf als | |
| Schwesternhelferin im Krankenhaus zu arbeiten. | |
| ## Stromabrechnung brachte alles ins Wanken | |
| Sie hat sich eingerichtet, mit den 380 Euro Hartz IV im Monat. „Ich | |
| versuche, das Beste draus zu machen“, sagt sie. Sie kauft in Sozialläden, | |
| sie geht nicht ins Schwimmbad, sondern joggt, sie raucht nicht und geht | |
| nicht aus. | |
| Dann, vor etwa einem Jahr, erhielt sie ihre Stromabrechnung, und das | |
| ohnehin prekäre finanzielle Gerüst, das sie sich zurechtgezimmert hatte, | |
| geriet ins Wanken. Fast 850 Euro sollte sie nachzahlen. Anders als Miete | |
| und Heizung werden die Energiekosten nicht direkt vom Amt übernommen. Es | |
| dauerte nicht lange, bis Annett Marti eine Mahnung bekam, die Stadtwerke | |
| drohten, ihr den Strom abzuschalten. „Das war schlimm“, sagt sie leise, „… | |
| so einer Situation bin ich noch nie gewesen.“ | |
| Mohan Rodrigo, ein untersetzter, heiterer Mann aus Sri Lanka, kann viel | |
| darüber erzählen, wie schwer sich viele, vor allem arme Menschen in | |
| Deutschland mit den hohen Strompreisen tun. Seit Mai ist er als | |
| Energiesparberater des Projekts „Strom und Schulden“ in Kiel unterwegs, | |
| einem Angebot der Diakonie. Insgesamt gibt es dort sieben Sparberater, alle | |
| Langzeitarbeitslose. Für ihren Einsatz bekommen sie etwa 550 Euro Zuschuss | |
| zum Hartz-IV-Satz, finanziert als Bürgerarbeit von EU und Bund. | |
| Rodrigo schlendert mit seinem Kollegen Holger Klaschka eine Ausfallstraße | |
| im Stadtteil Ellerbek entlang, ringsum geklinkerte Mietshäuser und | |
| ausladende Discount-Supermärkte. Kiel zählt zu den ärmsten Städten | |
| Deutschlands – rund einer von sechs Menschen bekommt Hartz-IV. | |
| Die Energiesparberater sind gefragt. Sie sind jeden Tag im Dienst. „Wir | |
| messen den Verbrauch der Geräte“, erklärt Rodrigo. „Später machen wir die | |
| Kalkulation und sagen, wo es Potenzial gibt zu sparen.“ Ein paar Tipps | |
| geben sie sofort, etwa, dass Kühlschränke weniger verbrauchen, wenn sie | |
| voll sind. „Man kann auch Wasser reinlegen, oder Bücher.“ Dann lacht er | |
| wieder, laut und fröhlich. | |
| ## Sparen bei Essen oder Kindergeburtstag | |
| Die beiden biegen in die Wahlestraße ein, vor einem schmalen Gebäude halten | |
| sie. Rodrigo klingelt, der Türsummer geht, im zweiten Stock steht ein Mann | |
| in Jogginghosen im Flur. Er hatte den Termin vergessen; die Berater kommen | |
| ungelegen. „Wir können in einer halben Stunde wiederkommen“, schlagen sie | |
| vor. Sie drehen um, Rodrigo sagt: „So was passiert.“ | |
| Sie steuern auf eine kleine Bäckerei zu, bestellen sich Kaffee und setzen | |
| sich an einen Tisch in der Ecke. Rodrigo sieht oft, was geschieht, wenn die | |
| Abschläge in ärmeren Haushalten steigen: Dann muss die Familie woanders | |
| sparen, etwa am Essen, „oder der Kindergeburtstag fällt aus. Meist sind die | |
| Kinder die Leidtragenden.“ | |
| Im Schnitt lässt sich der Verbrauch um etwa 20 Prozent senken, sagt | |
| Rodrigo. Inzwischen trifft er aber auch häufiger auf Familien, für die er | |
| nichts mehr tun kann. Die sparen schon, wo es geht. Und trotzdem wachsen | |
| ihnen die Kosten über den Kopf. „Das sind die traurigen Fälle.“ | |
| Zurück in der Wahlestraße. Nun öffnet eine junge Frau, die Tochter der | |
| Partnerin, der Klient selbst ist nicht mehr zu Hause. | |
| – „Der ist gegangen“, sagt sie. | |
| – „Das ist natürlich nicht so schön“, sagt Klaschka. | |
| – „Der hat gesagt, ich soll fragen, wieso er eine so hohe Rechnung hat.“ | |
| Schulterzucken. Die Berater können die Frage nicht beantworten, ohne die | |
| Gewohnheiten des Mannes zu kennen. | |
| ## Zwei Monatseinkommen für den Strom | |
| Wenige Kilometer weiter liegt Gaarden-Ost, ein Viertel am Ufer der Kieler | |
| Förde. In einer schmalen Altbauwohnung sitzen zwei Männer am Schreibtisch, | |
| die ihre Jacken nicht ausgezogen haben. Auch sie sind Energiesparberater. | |
| Sergei Pestrikow, ein schweigsamer Russe mit hagerem Gesicht, und Uwe Böhm, | |
| blass, blond, Brille. Das sind nicht ihre richtigen Namen. Sie wollen | |
| anonym bleiben, wie auch ihr Klient, der hier Hartmut Becker heißen soll. | |
| Ringsum Bücherstapel, an den Wänden Ölbilder, aus der Anlage dudelt Jazz. | |
| Hartmut Becker, Mitte 50, studierter Architekt, lebt schon lange von Hartz | |
| IV. Er zahlt 45 Euro für Strom im Monat, also 540 Euro im Jahr, „sehen Sie, | |
| das sind für mich zwei Monatseinkommen.“ Deswegen hat er die Berater | |
| geholt. „Ich hab da wenig Ahnung, zum Beispiel, was der Computer an Strom | |
| verbraucht.“ Er deutet auf einen beigefarbenen, jahrzehntealten Monitor. | |
| „Wie lange haben Sie den pro Tag an?“, fragt Böhm. „Letztes Jahr kaum.“ | |
| Böhm nickt und schließt sein Messgerät an den Bildschirm an. „80 Watt“, | |
| sagt er, „das ist viel, schockierend viel.“ Becker blinzelt etwas hilflos. | |
| „Aber ich liebe das alte Ding“, seufzt er, setzt seine Hornbrille auf und | |
| wieder ab. | |
| ## Abends werden Kerzen angezündet | |
| Sonst hat er nicht viele Möglichkeiten zu sparen; Beckers Verbrauch liegt | |
| im unteren Durchschnitt. Er zündet abends oft Kerzen an, um das Licht nicht | |
| einschalten zu müssen. „Ein großer Kostenfaktor sind Fernseher“, sagt Bö… | |
| „Ich hab keinen Fernseher“, sagt Becker. | |
| Am westlichen Stadtrand, in Mettenhof, bedrängen fleckige Plattenbauten ein | |
| Einkaufszentrum; ein Platzregen tränkt die betongraue Trostlosigkeit. | |
| Barbara Knott sitzt in ihrem Büro, vor ihrem Fenster leuchten diesige | |
| Neonlichter durch den Regen. Knott ist gelernte Bankkauffrau und studierte | |
| Pädagogin. Vor sieben Jahren half sie, das Projekt „Strom und Schulden“ | |
| aufzubauen. | |
| Sie und ihre beiden Kolleginnen beraten kostenlos Hartz-IV-Empfänger, wie | |
| sie ihre Stromschulden in den Griff kriegen können. Ihr Terminkalender war | |
| von Anfang an immer voll. Im Schnitt betreut sie heute 20 bis 30 Klienten | |
| im Monat. Menschen, die kurz vor der Stromsperre stehen oder bereits davon | |
| betroffen sind. „Manche bleiben ruhig, manche schreien herum“, sagt sie, | |
| „viele schämen sich sehr.“ | |
| Barbara Knott ist stolz auf das Zentrum; ein solches spezialisiertes | |
| Projekt gibt es in kaum einer anderen Stadt, vor allem nicht so eng | |
| vernetzt mit den Behörden. Die Jobcenter etwa schicken Hartz-IV-Empfänger | |
| mit Stromschulden direkt zu Barbara Knott. „Wenn ein Brief von den | |
| Stadtwerken kommt, den muss man aufmachen, verstehen, und in eine passende | |
| Handlung umsetzen“, sagt sie. Oft sind es solche Dinge, an denen es hapert. | |
| ## Stromschulden abstottern | |
| Viele ihrer Klienten haben zusätzlich hohe Schulden bei anderen Gläubigern. | |
| Die steigenden Strompreise, sagt Barbara Knott, „die kommen noch | |
| obendrauf.“ | |
| Neulich war ein Mann bei ihr, der acht Jahre lang ohne Strom gelebt hat. | |
| Barbara Knott hebt die Augenbrauen über ihrer randlosen Brille; sie kommt | |
| ja nicht mehr so leicht ins Staunen. Aber acht Jahre, sagt sie, „das ist | |
| schon außergewöhnlich.“ Doch sie findet für fast alle Fälle eine Lösung. | |
| Das Zentrum hat mit den Stadtwerken eine Vereinbarung: Der Schuldner muss | |
| ein Drittel zurückzahlen, dann wird der Strom wieder angeschaltet. Den Rest | |
| kann er in Raten abstottern. | |
| Im Foyer des Hauptbahnhofs ist noch viel los; Teenager flanieren zwischen | |
| McDonald’s und Multiplexkino. Annett Marti schlängelt sich durch die Menge | |
| in ein Café. Sie zieht sich die Mütze vom Kopf und lässt sich in einer | |
| Sitzecke nieder. Wie es zu der hohen Stromrechnung kam, weiß sie jetzt: Zu | |
| dem enormen Verbrauch der Heiztherme kam, dass sie seit der Trennung von | |
| ihrem Freund fast immer zu Hause ist. Ohne Arbeit und Geld gibt es kaum | |
| Gründe, die Wohnung zu verlassen. | |
| Sie sitzt still da, den Kopf geneigt, rührt in ihrem Kaffee. Sie zahlt | |
| jetzt im Monat 40 Euro ab, zusätzlich zu 100 Euro Stromabschlag – das ist | |
| insgesamt fast die Hälfte ihres Hartz-IV-Satzes. 150 Euro bleiben ihr noch | |
| zum Leben. Doch Annett Marti klagt nicht. „Ich muss die Ämter loben“, sagt | |
| sie. „Es muss ja keiner verhungern in Deutschland.“ Nur was ihr nicht | |
| einleuchtet, ist, wie es sein kann, dass sie in eine solche Not geraten ist | |
| und gar nicht wusste, wie ihr geschah. „Bald“, sagt sie leise, „gibt es n… | |
| noch zwei Schichten. Und die Armen, die fallen hinten runter.“ | |
| 25 Jan 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Gabriela M. Keller | |
| ## TAGS | |
| Hartz IV | |
| Energieeffizienz | |
| Strompreis | |
| Stadtwerk | |
| Energiekonzerne | |
| Schwerpunkt Klimawandel | |
| Stromkosten | |
| Energiewende | |
| Arbeitslosigkeit | |
| Stromkosten | |
| Strompreis | |
| Energiewende | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Stromsperren in Hamburg: Keine Kohle, kein Strom | |
| Stromsperren in Hamburg sind um 64 Prozent gestiegen. Nicht nur wegen | |
| verkürzter Mahnverfahren, sondern weil Hartz-IV-Sätze zu niedrig sind. | |
| Kühlschränke für Hartz-IV-Empfänger: Gutscheine, die kaltlassen | |
| Es gibt 3,3 Millionen Hartz-IV-Haushalte. Für diese fördert die Regierung | |
| die Anschaffung eines A+++-Kühlschranks. Nur 190 wurden bisher gekauft. | |
| Hartz-IV-Regelsatz zu knapp: 9,30 Euro mehr, damit es hell bleibt | |
| Bezieher von Arbeitslosengeld II können oft ihre Stromkosten nicht zahlen. | |
| Die Caritas fordert daher einen höheren Regelsatz. | |
| Energiewende in Thüringen: Zurück zur Kommune | |
| 400 Gemeinden kaufen sich die regionale Stromversorgung von Eon zurück. | |
| Billiger wird's nicht, aber besser - oder vielleicht doch nicht? | |
| Debatte Langzeitarbeitslosigkeit: Ein Plan für echte Jobs | |
| Lebenslang Hartz IV? Das droht Langzeitarbeitslosen, wenn nicht endlich | |
| anders gefördert wird. Und zwar ohne große Prüfung mit Amstsarzt oder | |
| andere Absurditäten. | |
| Wen trifft das EEG besonders?: Unsoziale Stromkosten beklagt | |
| Statt über den Strompreis sollte Ökostrom über Steuern finanziert werden, | |
| fordert ein Institut. Sonst seien ärmere Haushalte zu stark belastet. | |
| Energiewende lohnt sich frühestens 2020: Altmaier verspricht billigen Strom | |
| Umweltminister Peter Altmaier rechnet langfristig mit sinkenden | |
| Stromkosten. Über Rabatte für die Industrie bei der Ökostromförderung will | |
| er mit den Ländern reden. | |
| Energiewende in Deutschland: 312.000 Stromsperren im Jahr | |
| Kritiker haben es künftig schwerer, gegen die Energiewende zu | |
| argumentieren. Die Zahl der Verbraucher, denen der Saft abgeklemmt wird, | |
| ist halb so groß wie gedacht. |