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# taz.de -- Holocaust-Gedenktag: Helden, von denen keiner sprach
> Viele Berliner Juden überlebten die Nazi-Zeit. Mutige Deutsche
> versteckten sie jahrelang vor der Gestapo. Jetzt werden Retter und
> Verfolgte geehrt.
Bild: Die jüdische Publizistin Inge Deutschkron überlebte die Nazi-Zeit, weil…
BERLIN taz | Immer dann, wenn es überhaupt nicht mehr weiterging, wenn in
den zerbombten Häuserruinen die Nächte viel zu kalt zum Schlafen geworden
waren, wenn kein Kanten Brot zum Essen mehr da war, begab sich der
19-jährige Walter Frankenstein so unauffällig wie möglich in den Berliner
Stadtteil Grunewald, in die stille Menzelstraße, Nummer 9.
Die Sekretärin Edith Berlow wohnte dort. Frankenstein ging nicht gerne hin.
„Telefonieren war zu gefährlich. Und hinfahren war auch gefährlich. Man
konnte sie ja mit hineinreißen“, sagt er. „Frankenstein, der kam öfters,
weil er halb verhungert war“, erinnerte sich Berlow später. „Er kam halb
erfroren an, hat sich gewärmt und ein paar Eier gegessen, wenn welche da
waren.“
Berlow lebte in zwei Zimmern der Jugendstilvilla. Wenn Frankenstein
auftauchte, führte sie den jungen Mann die schmale Treppe hinauf. Zwischen
dem Erdgeschoss und dem ersten Stock lag das, was man früher eine
Mädchenkammer nannte: ein winziges Zimmerchen für die Haushaltshilfe.
Gerade einmal ein Bett passte in die vielleicht drei Quadratmeter große
Kammer. Es gab keine Waschgelegenheit. Hier nächtigte nicht nur Walter
Frankenstein.
Die Mädchenkammer war die letzte Zuflucht für viele Verfolgte. Edith
Berlow, Jahrgang 1903, half, wo sie nur konnte. Da war das Ehepaar Marliese
und Alfred Michalowitz, das sie versteckte. Da gab es ihren Freund Kurt
Hirschfeld, den sie nicht heiraten durfte. In ihrer Küche saß Werner
Scharff von der illegalen „Gemeinschaft für Frieden und Aufbau“, die mit
Flugblättern die Bevölkerung wachrütteln wollte.
## Würdigung der stillen Helden
Edith Berlow zählt zu denjenigen, die man heute „stille Helden“ nennt:
Menschen, sie sich dem Nazi-Regime verweigerten und in höchster Gefahr
verfolgte Juden vor der Gestapo verbargen. Walter Frankenstein, der heute
hochbetagt in einem Stockholmer Altersheim lebt, war so ein Jude. Er
erinnert sich an die 1995 verstorbene Berlow voller Verehrung: „Sie war
eine ganz besondere Persönlichkeit, eine große Humanistin.“
An diesem Mittwoch wird die Geschichte von Berlow, Frankenstein und all den
anderen Verfolgten und ihren Rettern an höchster Stelle gewürdigt. Zum
Holocaust-Gedenktag spricht im Deutschen Bundestag Inge Deutschkron. Die
heute 90 Jahre alte Journalistin und Schriftstellerin hat selbst – zusammen
mit ihrer Mutter – versteckt überlebt. 1942 war das, ein Jahr, nachdem die
Deportationen der Berliner Juden in den Osten begonnen hatten. Da gingen
schon Gerüchte herum, dass die Menschen dort erschossen würden.
„Ach nee, das ist doch Quatsch! Das kann doch nicht sein“, sagte Inge
Deutschkron damals zu ihrer Mutter. Sie wollte es nicht glauben. Doch dann,
so erinnert sie sich, kam einer von ihren Freunden und sagte: „Ihr dürft
nicht mitgehen, wir haben gehört, was sie da machen! Wir verstecken euch.“
So begann eine Odyssee mit immer neuen Helfern. „Ich glaube, es waren elf“,
sagt die quicklebendige alte Dame.
Die Berliner Jüdische Gemeinde zählte im Jahre 1933 etwa 160.000
Mitglieder. 90.000 von ihnen gelang die rechtzeitige Auswanderung. 55.000
Juden sind von den Nazis ermordet worden. 7.000 starben in Berlin, die
meisten von ihnen nahmen sich aus Verzweiflung das Leben. Etwa 8.000
Berliner Juden überlebten den Holocaust, mehr als die Hälfte von ihnen,
weil sie durch einen „arischen“ Ehepartner halbwegs geschützt waren.
## Kurze Zeit bei Unbekannten
Es waren vermutlich 5.000 bis 7.000 Berliner Juden, die in den Untergrund
gingen. Nicht einmal jeder Dritte überlebte: etwa 1.700 Menschen, so wie
Inge Deutschkron und Walter Frankenstein mitsamt seiner Frau und den beiden
Kindern. All die anderen schickte die Gestapo in den Tod – so wie den
damals 58-jährigen Alfred Michalowitz, am 22. Oktober 1944 nach Auschwitz
deportiert, oder Werner Scharff, mit 33 Jahren erschossen im KZ
Sachsenhausen am 16. März 1945.
Viele starben durch Bomben der Alliierten, weil sie keine Bunker aufsuchen
konnten. Manche begingen Selbstmord – so wie Marliese Michalowitz 1944,
nachdem sie geschnappt worden war.
Es ist nicht so, dass die „U-Boote“, wie sich die Versteckten selbst
nannten, einige Jahre bei guten Freunden, etwas beengt zwar und bei knappen
Rationen, in einem Zimmer hinter einer aufgeklebten Tapete verbringen
durften. Die meisten konnten immer nur kurze Zeit bei Bekannten oder völlig
Unbekannten verbringen.
Walter Frankenstein erinnert sich, wie er einmal ein Versteck bei einem
Tischler in Leipzig fluchtartig verlassen musste: „Da kam eine Nachbarin,
die fragte, was das denn für ein junger Mann sei, der da wohne. Und warum
der denn nicht beim Militär sei.“ Die Flüchtlinge wurde von Adresse zu
Adresse weitergereicht. Manche verschwanden in ostpreußischen Pfarrhäusern.
Andere lebten zeitweise in Berliner Kohlenkellern. Es bildeten sich
Netzwerke von Helfern.
## Keinen Kontakt zu Deutschen
Nur die wenigsten Überlebenden blieben nach dem Krieg in Deutschland. Kurt
Hirschfeld ging mit Edith Berlow, die nun, nach Ende der „Rassegesetze“,
endlich heiraten durften, nach New York. Inge Deutschkron emigrierte
zunächst nach London, Frankenstein erreichte mit seiner Familie 1947
Palästina. „Ich wollte mit diesen Deutschen nicht mehr den geringsten
Kontakt haben“, sagt er heute. Die „stillen Helden“ aber, die unter
Lebensgefahr Juden gerettet hatten, blieben meist in ihrer Heimat. Doch zu
Helden wurden sie im Lande Konrad Adenauers und seines Staatssekretärs Hans
Globke, einem Kommentator der Nürnberger „Rassegesetze“, nicht, ebenso
wenig wie in der „antifaschistischen“ DDR.
„Weder im Osten noch im Westen wollte man etwas von diesen Menschen
wissen“, sagt Barbara Schieb von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in
Berlin „Widerstandskämpfer, auch die Hitler-Attentäter vom 20. Juli 1944,
galten im Westen anfangs als Vaterlandsverräter“, meint Schieb zur
Erklärung.
Und auch später galten die Retter nicht als „richtige“ Widerstandskämpfer.
Auch in der DDR blieben die „stillen Helden“ unbeachtet. Schieb: „Wer nic…
im kommunistischen Widerstand aktiv gewesen war, wurde nicht beachtet. Nur
wer etwa einen kommunistisch gesinnten Juden verborgen hatte, dessen
Chancen auf Anerkennung stiegen.“
Die meisten Deutschen, ob in Ost oder West, waren sich nach dem Krieg darin
einig, „davon“ nichts gewusst zu haben. Vom Mord an den Juden habe man nie
etwas gehört. Walter Frankenstein kann sich darüber noch mit 88 Jahren
aufregen. „Das ist eine Lüge!“, ruft er in der Wohnung seines Stockholmer
Seniorenheims. Tatsächlich sind sich Historiker heute darin einig, dass die
Deutschen weit besser informiert waren, als sie später zugaben. Auch wenn
der Holocaust „geheime Reichssache“ war: Heimkehrende Soldaten berichteten
von Massenerschießungen im Osten.
## Lebender Beweis für den Widerstand
In manchen Städten wurden die Juden, Nachbarn noch bis vor ein paar
Stunden, vor ihrer Deportation am helllichten Tag in großen Gruppen,
bewacht von der Polizei, zu den Bahnhöfen getrieben. Der verfolgte
Frankenstein selbst erfuhr noch während der Nazi-Zeit über einen Bekannten
seines „arischen“ Schwiegervaters von den Bauarbeiten zur Einrichtung der
Gaskammern in Auschwitz.
Doch die Judenretter waren nicht nur ein Zeichen dafür, dass die übergroße
Mehrheit der Deutschen ihre eigene Schuld verdrängte. Sie straften zugleich
die Behauptung Lüge, man habe nichts gegen die Nazi-Diktatur unternehmen
können. Sie waren der lebende Beweis dafür, dass Widerstand möglich war,
und zwar ein ganz privater, vielleicht nur kleiner und unauffälliger, aber
doch einer, der allein in Berlin über 1.700 Juden das Leben gerettet hat.
Davon wollte man nichts hören. In West-Berlin, immerhin, sorgte der
damalige Innensenator Joachim Lipschitz (SPD) Ende der 1950er Jahre dafür,
dass einige der bedürftigen Retter eine kleine Ehrenrente von 50 bis 100
Mark erhielten.
Heute ist das längst anders. In Berlin hat die Gedenkstätte Deutscher
Widerstand vor wenigen Jahren ein kleines Museum über die „stillen Helden“
eingerichtet, samt Datenbank, wo der Besucher nach Orten und Namen suchen
kann, und aufgrund der Initiative der immer noch wirbelnden Inge
Deutschkron.
Historiker erforschen die Hintergründe der Retter. Sie suchen nach
Gemeinsamkeiten – und wundern sich. Denn dieser Widerstand mag so gar nicht
in das sonst übliche Raster passen. Natürlich halfen auch überzeugte
Sozialdemokraten und Kommunisten – aber genauso vermeintlich unpolitische
Hausfrauen und Sekretärinnen, Arme und Reiche, Soldaten, Handwerker,
Pfarrer und Prostituierte.
## Kaum Beamte unter den Rettern
„Grundvoraussetzung für die Hilfe war, dass man nicht der rassistischen
Ideologie erlegen war“, sagt Schieb. Unter den Rettern, so die
Historikerin, seien besonders Angehörige von freien Berufen vertreten.
Dagegen fänden sich nur sehr wenige Beamte.
So wie man vor 60 Jahren von den Rettern nichts wissen wollte, so droht
heute ein umgekehrter Effekt: Die „stillen Helden“ werden zu leuchtenden
Vorbildern erklärt, deren Altruismus und Menschlichkeit unerreichbar
scheint. Vergessen wird dabei, wie der Sozialwissenschaftler Harald Welzer
befürchtet, dass sich diese Menschen damals in der Gesellschaft extrem
unangepasst verhielten.
Doch unangepasstes Verhalten gilt auch heute, in einem demokratischen
Staat, keinesfalls als vorbildlich: Wer heute etwa zum Widerstand gegen
eine Nazi-Demonstration aufruft, muss bisweilen eher mit einer langen
Strafe als mit dem Bundesverdienstkreuz rechnen, wie der Fall eines
kürzlich zu 22 Monaten Haft verurteilten jungen Mannes aus Dresden zeigt.
„Das waren Helden“, sagte Inge Deutschkron einmal im taz-Interview über
ihre Retter. „Ich habe immer die Deutschen, die uns geholfen haben,
bewundert“, sagt Walter Frankenstein. „Leider waren es viel zu wenige.“ E…
großer Teil seiner Verwandten wurde von den Nazis ermordet. Sie fanden
keine „stillen Helden“.
30 Jan 2013
## AUTOREN
Klaus Hillenbrand
Klaus Hillenbrand
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