# taz.de -- Schlagloch Akademischer Betrieb: Schafft den Doktortitel ab! | |
> Der Doktortitel ist einfach nur ein nerdiger Schwanzvergleich. Einen | |
> wissenschaftlich-fachlichen Aussagewert hat er nicht. | |
Bild: Weg damit – levitierte Doktorhüte. | |
Bei Gutti war die Schadenfreude noch groß, und das zu Recht, bei Frau | |
Schavan gibt es schon Unbehagen. What’s next? Vielleicht traut sich jemand, | |
mal Doktorarbeiten von „Wirtschaftskapitänen“ anzuschauen? Wahrscheinlich | |
eher nicht. Aber vielleicht könnte man darüber nachdenken, ob dieser | |
Doktortitel überhaupt noch zeitgemäß ist. | |
Seit es den Doktortitel gibt – 900 Jahre ist das nun schon her –, wird | |
geschummelt, werden Titel direkt oder indirekt gekauft, gibt es die kleine, | |
aber umsatzstarke Industrie der Doktormacher-Industrie, von den | |
„Begleitern“ bis zu den „Komplettlösern“, kommen sich die Parteien, | |
Anbieter und Nachfrager der Karriereprothese, wenn es um ökonomische | |
Belange geht, einander gern einmal entgegen, kriegen Leute aus großen | |
Familien und Parteimitglieder leichter ihren Doktor als Habenichtse. | |
Denn mag der Doktortitel als Abschluss einer akademischen Ausbildung | |
vielleicht irgendetwas nachweisen, im richtigen Leben hat er ganz andere | |
Funktionen. Er ermöglicht insbesondere dort, wo am wenigsten | |
wissenschaftlich gedacht wird, einen Karriere-Einstieg um zwei, drei | |
Gehaltsprossen höher als die Konkurrenz, nicht weil man etwa am | |
Wissenschaftsnachweis interessiert wäre, sondern weil der Titel auch die | |
Institution verkaufen hilft, in der man ihn an Türen klebt und auf | |
Briefpapier druckt. | |
## Kulturelle Waffe im Abstiegskampf | |
Der Doktortitel ist ein Instrument der Differenzierung in bürgerlichen | |
Hierarchien, ein Medium der Selbstvergewisserung und Selbstermächtigung, | |
die Illusion von Bildung in der Welt von Google und | |
Think-Tank-Geheimwissen, eine kulturelle Waffe im sozialen Abstiegskampf. | |
In seinem sozialen Gebrauch hat der Doktortitel mit seinem | |
wissenschaftlich-fachlichen Aussagewert nicht das Geringste zu tun. | |
Denn: Braucht man in der Politik oder im Wirtschaftsmanagement, vor Gericht | |
oder in der Finanzspekulation, als „Blattmacher“ oder Fernsehredakteur etwa | |
den Nachweis für „wissenschaftliches Denken“? Das genaue Gegenteil muss man | |
beherrschen! | |
Aber man weist anderes nach: zum Beispiel Ehrgeiz, aber auch die Fähigkeit | |
der eigenen Familie, das Entsprechende zu finanzieren, die Bereitschaft | |
sich hervorzutun, eine karrierebewusste Lebensplanung, den Umgang mit | |
untoten Dingen und Texten. Ein Preis ist zu zahlen entweder in Geld, in | |
Lebenszeit oder in Opferbereitschaft. Kann auch schiefgehen. Wenn eine | |
Doktorarbeit zwischen drei und fünf Jahren Lebenszeit vernichtet, weil man | |
unterwegs bemerkt, dass es gar nicht mehr um den großen Wurf, sondern nur | |
noch ums Irgendwie-fertig-Werden geht, dann ist das genauso furchtbar wie | |
die Strategie, eine „leere“ Zeit des Lebens auf diese Weise wenigstens | |
halbwegs sinnvoll zu füllen. | |
Braucht aber jemand einen Titel, der vor seinem Namen seine Befähigung zu | |
wissenschaftlichem Arbeiten herumtragen muss? Trägt ein Facharbeiter einen | |
Facharbeitertitel vor dem Namen? Oder ein Lkw-Fahrer die Klasse seines | |
Führerscheins? Innerhalb des akademischen Betriebs könnt ihr euch | |
meinetwegen mit Titeln schmücken, bis ihr nicht mehr gehen könnt; auch | |
Nerds brauchen ihren Schwanzvergleich. Aber in der äußeren Welt gibt es | |
keinen Grund (mehr), einen solchen Titel herumzutragen und einzusetzen. | |
## Die stolz getragene Narbe | |
Der Doktortitel ist ein Relikt aus einer Beziehung zwischen einer Klasse, | |
die es nicht mehr gibt, und einer Institution, der Universität, die es | |
nicht mehr gibt. Der einzig unserer Realität angemessene Doktortitel ist | |
ein gekaufter Doktortitel. | |
Zu den Problematiken, die wir mit einem so zugleich relikthaften und | |
aktualisierten Mythos haben, gehören gewiss die Beziehungen zu den | |
„Doktorvätern“ bzw. „Doktormüttern“. (Das Ganze ist nur in Deutschlan… | |
familiär modelliert.) Er (oder sie) soll helfen, das richtige Thema zu | |
finden, die Arbeit zu begleiten, und wird am Ende als Erstgutachter die | |
Arbeit auch benoten. Das schafft eine bemerkenswerte Mischung aus | |
Abhängigkeit und Vertrauen. | |
Als wissenschaftliches Kind von Doktoreltern wiederholt man offensichtlich | |
die familiäre Ordnung der bürgerlichen Welt, es ist eine Art Psychodrama | |
mit Stadien der Unterwerfung und der Initiation. Die meisten Doktorarbeiten | |
dokumentieren weniger etwas, was man geschafft hat, als das, was man | |
überstanden hat. Vielleicht ist ein Doktortitel für die Seele das, was für | |
den schneidigen Studenten in der schlagenden Verbindung von einst der | |
„Schmiss“ war, eine stolz getragene Narbe aus einer geschlossenen | |
sadomasochistischen Anstalt? | |
Der Doktortitel ist zu einem Fetisch geworden; und paradoxerweise ist er | |
gerade darin Ausdruck und Abwehr einer längst wieder verlorenen | |
Demokratisierung der Universitäten. Als diese sich nämlich in den sechziger | |
Jahren sozial öffneten, entwerteten sie sogleich, karriere- und | |
prestigemäßig, vom Klassenbewusstsein ganz zu schweigen, das bloße Studium; | |
man musste es, wenn man höher hinauswollte, wieder aufwerten. Durch den | |
Doktor, zum Beispiel. | |
## Die soziale Krankheit | |
In den Zentren der „echten“ Macht, in der Politik, in der Juristik und in | |
der Wirtschaft wird naturgemäß dieser Titel, der nun nichts mehr mit dem | |
Nachweis von wissenschaftlichem Arbeiten zu tun hat, interessanterweise | |
besonders karrierefördernd eingesetzt. Nirgendwo kann man eine bewusste | |
Konstruktion der „kleinen Unterschiede“ besser studieren, nirgendwo die | |
soziale Umwertung eines schlichten Ausbildungsnachweises. Es geht hier eben | |
nicht darum, was der Doktortitel über das Wissen und gar die Erkenntnis des | |
Doktors aussagt, es geht vielmehr um seine oder ihre Fähigkeit, den | |
Unterschied zu anderen Studierenden zu konstruieren. | |
Vielen Dr.-Menschen ist er daher ein wenig peinlich, sie müssen ihn noch in | |
den Berufskämpfen der prekärsten kulturellen Arbeit zum Überleben | |
einsetzen, und sie möchten ihn sozial eher verbergen. Für andere bleibt er | |
ein letztes Instrument der Selbstaufwertung in einem Prozess allfälliger | |
Abwertungen. Wir müssen den Doktortitel und die Art, wie er erworben werden | |
muss, am ehesten als eine soziale Krankheit behandeln. | |
In jedem Augenblick arbeiten in Deutschland etwa 200.000 Menschen an einer | |
Dissertation. Und was haben wir ihnen aufgebürdet: In einer Welt, in der | |
man alles kaufen, fälschen und simulieren kann, sollen ausgerechnet sie | |
Herz, Hirn und Hintern opfern für ein Schauspiel des Nichtgekauften, | |
Nichtgefälschten, Nichtsimulierten. | |
Und dann haben wir noch einen Verdacht. Doktoranden sind erste symbolische | |
Opfer für kommende Copyright Wars. An ihnen wird etwas verhandelt, was mit | |
wissenschaftlicher Arbeit wenig zu tun hat; es ist wieder einmal eine | |
Sündenbocksuche. Schaffen wir den außerakademischen Gebrauch des | |
Doktortitels also ab! Und zwar echt. | |
14 Feb 2013 | |
## AUTOREN | |
Georg Seesslen | |
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